Wenn ich mich ins Auto setze und nach zwei Stunden Fahrt in meiner ehemaligen Welt wieder auftauche, ist zwar vieles unwirklicher, ungreifbarer geworden. Ich wundere mich dann darüber, wie viele Kinder es gibt. Die, die keins hatten, haben nun eins, die die eins hatten, haben nun zwei, und so fort. Ich hab keine Ahnung zumeist, wie die Kinder heißen. Die sind alle klein und laufen so kreuz und quer.
Auch die Realität der Erwachsenen ist schwammig geworden. Ich bekomme sie nicht mehr haargenau mit, die Jobwechsel und die Geldsorgen, die Urlaubspläne und Partyvorbereitungen.
Ich platze nach zwei Stunden Fahrt mitten in etwas hinein und muss erstmal aufs Klo, anstatt vorher schon mitgefiebert oder mitgeplant zu haben. Ich stehe einfach nur da, während die anderen schnelle Entscheidungen treffen, kochen, auftischen, herumwerkeln, losmüssen, wiederkommen. Das lässt mich ein bisschen langsam wirken. Vielleicht bin ich aber sowieso langsamer geworden.
Aber etwas ist gleich geblieben: Ich kann reden. Mit vielen. Über sehr Unterschiedliches. Zu allen Gesprächen bleibt mir ein Bild im Kopf zurück, das mir diesen Gesprächspartner in seiner Welt zeigt und der sich sofort untrennbar mit dem Namen dieses Menschen verknüpft, selbst wenn ich diesen Menschen auf meinem Besuch bei Freunden gerade erst kennengelernt habe.
„Ich bin so ein Barista-Typ“, sagt mir eine junge Frau mit dem Namen S., und obwohl ich noch nie in dem Café war, in dem sie bedient, denn es hat nach meiner Zeit aufgemacht, kann ich mir (vielleicht dank den Instagram-Bildern meiner Freunde) vorstellen, wie sie dort steht. Ihren Namen und ihr Gesicht vergesse ich nicht.
„Meine Eltern haben viele Kinder in die Welt gesetzt“, erzählt mir jemand namens A., den ich ebenfalls noch nie zuvor gesehen habe, aber mir sagt der Name seines Stadtteils was, und wie seine Eltern auf der Etage eines Hochhauses drei Wohnungen zu einer zusammengelegt haben, kann ich mir lebhaft vorstellen. Auch diesen Menschen vergesse ich nicht.
Manche erzählen mir, was ihre Airbnb-Vermietungen so machen. Andere sind sehr müde, weil sie gerade um den halben Erdball geflogen sind oder die ganze Nacht lang gebacken oder genetflixt haben. Aber egal, wie der Status gerade ist, wir verknüpfen die losen Fäden sofort wieder zu einem Gespräch, das dort weitergeht, wo es vor einigen Monaten, beim letzten Besuch, oder zwischen Facebook und Instagram, verlorenging.
Schwierig wird es eigentlich nur mit den ganz wenigen Menschen, die mir sehr, wirklich sehr viel bedeuten. Stehen wir plötzlich voreinander, nach Monaten der Funkstille (es gibt zwar Facebook, Twitter, WhatsApp, aber was die da schreiben, bleibt dennoch immer seltsam entfernt), fällt mir nicht ein, an was ich anknüpfen könnte. Und ich merke, diesen Menschen geht es ebenso – ich weiß aber nicht, ob das an meiner Unsicherheit liegt, die sich auf sie überträgt, oder ob sie vielleicht zuerst unsicher waren, bevor ich es wurde, oder ob es etwas Allgemeineres ist.
Zu viel steht zwischen uns. Zu viel des „was machst du jetzt, wie geht es dir jetzt“, was man aber lieber nicht fragen möchte, da es, egal wie man fragt, immer zu abgedroschen klingt. Und man will es doch in den wenigen Minuten, die man sich sieht, schön zusammen haben. Man will die Freundschaft feiern, den Augenblick, und nicht die Statistik zwischen dem letzten und dem heutigen Treffen akribisch aufarbeiten. Es muss ästhetisch werden, Ästhetik und gestillte Sehnsucht und Aha-Momente um jeden Preis.
Dann hilft nur Alkohol, um so etwas wie zu den alten Zeiten zurückkehren zu können. Zu den Zeiten, in denen wir gemeinsam lachten, weinten, stritten, arbeiteten, beteten und faulenzten und Quatsch-Videos guckten.
Manchmal wünsche ich mir, diese Freundschaft(en) nicht mehr immer wieder neu einfädeln und halten, überdenken und stilisieren, überwachen und weglachen, heimlich überhöhen, öffentlich aber als selbstverständlich darstellen zu müssen. Ich möchte die Dinge nicht mehr in der Hand haben. Ich will, dass jemand anderes den Roman schreibt, in dem ich nur vorkomme. Egal, was mit mir passiert. Egal.