Coronatagebuch Tag #58

20200504_162726

Waldspaziergang mitten in der Woche. Egal wie lange.

Montag ist Kopiertag. Mittwoch ist Klaviertag. Freitag ist Abliefertag. Samstag ist Aufräumtag und Markttag. Sonntag ist Gottesdiensttag und meistens auch Ausflugtag.

Von Montag bis Freitag gilt von 9 bis 15 Uhr Lernzeit, mit egal wie vielen Pausen zwischendurch. Danach spielen die Kinder draußen mit den Nachbarskindern bis sie zum Abendessen wieder in der Küche stehen.

Die Woche hat eine Minimalstruktur.

Die Struktur ist genau richtig, um die Motivation zum Aufstehen und Lernen hochzuhalten. Vor allem die Zehnjährige hat da ihren vom Unterricht vorgegebenen Takt. Wir anderen platzieren unsere Tasks zwischendurch: Mal steht eine größere Einkaufstour an, mal ist Hausputz angesagt, mal gibt es Lohnarbeit für einen ganzen Vor- oder Nachmittag, mal schnappen wir uns die kleinen Geschwister und gehen für ein paar Stunden zusammen in den Wald.

Die Tage sind lang.

Aber auch die Nächte. Von 21 bis 7 Uhr herrscht Ruhe im Haus. Seit die Minimalstruktur vorherrscht, sind die Kinder abends schläfrig und entspannt und schlafen auch fast immer durch. Das sind 10 Stunden ohne Kinder, von denen ich einige dazu nutze, um auch mal nützliche Dinge gar nichts zu tun, ein wenig aufzuräumen oder mich im Internet umzusehen.

Heute war ein Samstag.

Das heißt Aufräumtag. Am Ende war alles so ordentlich, dass es mir leid tat, jetzt mit Kochen anzufangen. Daher holte ich Bargeld und Essen vom Döner.

Nach dem Mittagessen war es schon fast 15 Uhr. Wir brachen auf, unsere besten Freunde wiederzusehen. Zum ersten Mal wollten wir alle den Nachmittag zusammen verbringen. Drinnen und ohne Sicherheitsabstand. Das war kurz komisch, aber nach fünf Minuten nicht mehr. Die Kinder, vor allem die Jüngsten, waren durch das Wiedersehen merklich entspannter als sonst. Wobei sie ja auch sonst entspannt sind. Aber sie kehrten mühelos ihre besseren Seiten hervor, hatten Freude am Spielen, Freude am Essen und mussten viel weniger ermahnt werden.

In Addition unternahmen wir einen Spaziergang über die Felder. Über uns die Lerchen, am Horizont die Saftfabrik. In Sichtweite der Kinder Misthaufen und große Hunde, die über die Felder jagten. Sogar ein gemeinsames Abendessen trauten wir uns im Anschluss zusammen einzunehmen.

Die letzten Wochen

Ein bisschen wehmütig fuhren wir nach Hause. Die Dämmerung kam gegen halb 10. Luft und Boden waren nach dem fast regenfreien Frühjahr so trocken wie im August. Das Gras war versengt. Es gab Risse im Boden, auch unter Bäumen, da wo immer Schatten war.

Die kommende Woche wird die vorerst letzte mit wenig Struktur sein. Danach beginnt wieder der Kindergarten. Unter was für Bedingungen auch immer. Wir haben uns an unseren langsamen Alltag so gewöhnt, dass ich mir kaum vorstellen kann, die Kinder für länger als vier Stunden nicht zu sehen.

Daher fühlte sich diese Abenddämmerung so an wie die letzte Woche im August. Es war dasselbe Gefühl wie in der letzten Ferienwoche, bevor die Schule wieder losgeht. Die Angst davor, dass einem unweigerlich viele Freiheiten wieder genommen werden, die man gerade erst erhalten hat. Und die lächerliche Hoffnung darauf, dass man sich einige der Freiheiten einfach in die kommende, arbeits- und entbehrungsreiche Zeit hinüberretten wird.

Ich platze mitten hinein

Wenn ich mich ins Auto setze und nach zwei Stunden Fahrt in meiner ehemaligen Welt wieder auftauche, ist zwar vieles unwirklicher, ungreifbarer geworden. Ich wundere mich dann darüber, wie viele Kinder es gibt. Die, die keins hatten, haben nun eins, die die eins hatten, haben nun zwei, und so fort. Ich hab keine Ahnung zumeist, wie die Kinder heißen. Die sind alle klein und laufen so kreuz und quer.

Auch die Realität der Erwachsenen ist schwammig geworden. Ich bekomme sie nicht mehr haargenau mit, die Jobwechsel und die Geldsorgen, die Urlaubspläne und Partyvorbereitungen.

Ich platze nach zwei Stunden Fahrt mitten in etwas hinein und muss erstmal aufs Klo, anstatt vorher schon mitgefiebert oder mitgeplant zu haben. Ich stehe einfach nur da, während die anderen schnelle Entscheidungen treffen, kochen, auftischen, herumwerkeln, losmüssen, wiederkommen. Das lässt mich ein bisschen langsam wirken. Vielleicht bin ich aber sowieso langsamer geworden.

Aber etwas ist gleich geblieben: Ich kann reden. Mit vielen. Über sehr Unterschiedliches. Zu allen Gesprächen bleibt mir ein Bild im Kopf zurück, das mir diesen Gesprächspartner in seiner Welt zeigt und der sich sofort untrennbar mit dem Namen dieses Menschen verknüpft, selbst wenn ich diesen Menschen auf meinem Besuch bei Freunden gerade erst kennengelernt habe.

„Ich bin so ein Barista-Typ“, sagt mir eine junge Frau mit dem Namen S., und obwohl ich noch nie in dem Café war, in dem sie bedient, denn es hat nach meiner Zeit aufgemacht, kann ich mir (vielleicht dank den Instagram-Bildern meiner Freunde) vorstellen, wie sie dort steht. Ihren Namen und ihr Gesicht vergesse ich nicht.

„Meine Eltern haben viele Kinder in die Welt gesetzt“, erzählt mir jemand namens A., den ich ebenfalls noch nie zuvor gesehen habe, aber mir sagt der Name seines Stadtteils was, und wie seine Eltern auf der Etage eines Hochhauses drei Wohnungen zu einer zusammengelegt haben, kann ich mir lebhaft vorstellen. Auch diesen Menschen vergesse ich nicht.

Manche erzählen mir, was ihre Airbnb-Vermietungen so machen. Andere sind sehr müde, weil sie gerade um den halben Erdball geflogen sind oder die ganze Nacht lang gebacken oder genetflixt haben. Aber egal, wie der Status gerade ist, wir verknüpfen die losen Fäden sofort wieder zu einem Gespräch, das dort weitergeht, wo es vor einigen Monaten, beim letzten Besuch, oder zwischen Facebook und Instagram, verlorenging.

Schwierig wird es eigentlich nur mit den ganz wenigen Menschen, die mir sehr, wirklich sehr viel bedeuten. Stehen wir plötzlich voreinander, nach Monaten der Funkstille (es gibt zwar Facebook, Twitter, WhatsApp, aber was die da schreiben, bleibt dennoch immer seltsam entfernt), fällt mir nicht ein, an was ich anknüpfen könnte. Und ich merke, diesen Menschen geht es ebenso – ich weiß aber nicht, ob das an meiner Unsicherheit liegt, die sich auf sie überträgt, oder ob sie vielleicht zuerst unsicher waren, bevor ich es wurde, oder ob es etwas Allgemeineres ist.

Zu viel steht zwischen uns. Zu viel des „was machst du jetzt, wie geht es dir jetzt“, was man aber lieber nicht fragen möchte, da es, egal wie man fragt, immer zu abgedroschen klingt. Und man will es doch in den wenigen Minuten, die man sich sieht, schön zusammen haben. Man will die Freundschaft feiern, den Augenblick, und nicht die Statistik zwischen dem letzten und dem heutigen Treffen akribisch aufarbeiten. Es muss ästhetisch werden, Ästhetik und gestillte Sehnsucht und Aha-Momente um jeden Preis.

Dann hilft nur Alkohol, um so etwas wie zu den alten Zeiten zurückkehren zu können. Zu den Zeiten, in denen wir gemeinsam lachten, weinten, stritten, arbeiteten, beteten und faulenzten und Quatsch-Videos guckten.

Manchmal wünsche ich mir, diese Freundschaft(en) nicht mehr immer wieder neu einfädeln und halten, überdenken und stilisieren, überwachen und weglachen, heimlich überhöhen, öffentlich aber als selbstverständlich darstellen zu müssen. Ich möchte die Dinge nicht mehr in der Hand haben. Ich will, dass jemand anderes den Roman schreibt, in dem ich nur vorkomme. Egal, was mit mir passiert. Egal.