Auf Durchfahrt wohin

Bahnhöfe nach zwei Jahren Pandemie sind langsam und leise.

Die wenigen Leute bewegen sich mit Bedacht. Durch meine Maske kann ich sie nicht hören, auch wenn meine Ohren frei sind.

Die Rolltreppen fahren leer im Schritttempo auf und ab. Es ist noch nicht 23 Uhr.

Der Coffeeshop ist dunkel. Alle Bäckereien sind dunkel. Der McDonalds ist mit Pappe verrammelt. Die elektronische Fahrtanzeige ist blankgefegt, aber nicht wegen Corona, sondern wegen einer Störung.

Es stört keinen, alle schlagen ihren weiteren Reiseverlauf in ihren Handys nach. Oder sie schreiben Liebesbriefe. Oder sie zählen ihre Schritte. Oder sie lesen: Bring Butter mit. Oder sie informieren sich über den nahen Krieg.

Auch wenn es uns diesmal nicht direkt treffen wird:

Sperrstunde kennen wir. Demonstrations- und Versammlungsverbote kennen wir. Denunziation durch die Nachbarn kennen wir. Schlange stehen kennen wir. Von der Polizei aufgeschrieben werden kennen wir. Wir kennen zwar keine Bunker, waren nie auf der Flucht, aber auf Realitätsflucht waren wir. Falschnachrichten aussortieren können wir mittlerweile auch. Mit mäßigem Erfolg.

Ich habe am Bahnhof eine halbe Stunde Zeit und suche so etwas wie einen Sitzplatz oder einen Kaffeetisch. Ein Stehtisch würde mir reichen.

Bänke sind gerade nicht in Mode.

Das einzig Einladende sind überdimensionale Bildschirme, auf denen Geckos in Zeitlupe zu sehen sind und langsam steigende Ballons. Kaufanreiz für Flugreisen und Datenpakete, gleichzeitig verordnete Nervenberuhigung. Am Ende der Mall strömt doch noch Licht aus einem Laden. Dorthin!

Aber es ist eine Coronateststation.

In den Regeln steht: Vermeiden Sie Treffen mit nicht unbedingt notwendigen Kontakten. Aber alle Kontakte sind unbedingt notwendig.

Wohin kann man noch gehen?

Ich kann nicht zu meinen Nachbarn, weil sie in Quarantäne sind. Ich kann nicht zu meinen Eltern, weil sie nicht unbedingt notwendige Treffen vermeiden wollen. Zu mir kommt auch kaum jemand, weil ich Hochrisiko bin.

Krebs in der Pandemie ist wie nachts durch einen Tunnel zu fahren.

Vor den Fenstern ist es dunkel, und ich weiß nicht, ob ich gerade in dem Tunnel bin oder nicht. Es spielt auch gar keine Rolle. Im Zug selbst ist Beleuchtung und wackeliger Datenempfang, es wird Spiel, Spaß und Ablenkung gereicht. Das reicht mir. Ich muss nur durchkommen. Durchhalten, lautet die Parole, und darin war ich schon immer gut. Ich muss ja auch nicht Pripjat gegen Ukrainer oder Russen verteidigen, eine Aussicht, die für meinen Freund aus Belarus jeden Tag Realität werden könnte.

Je länger die Dunkelheit vor den Fenstern andauert, umso mehr fürchte ich die Helligkeit. Irgendwann wird es wieder hell werden, sicherlich. Das sagt alle Erfahrung. Aber ob zuerst der Tunnel vorbei ist oder zuerst die Sonne aufgeht oder zuerst der Nebel abzieht, und wie man sich dann zu verhalten hat, vermag niemand zu sagen.

Es ist nicht immer einfach. Ich muss nur geduldig und tapfer sein.

Das ist das Minimum, das ich zur Situation beitragen kann. Zur Coronasituation. Zur Chemosituation. Zur Kriegssituation. Wir haben gelernt: Brot backen, ein Beet anlegen, auf dem Balkon singen hilft nicht. Niemand kann zwei Jahre lang brotbackend und beetanlegend balkonsingen.

Wir haben gelernt: Die Impfungen helfen nicht. Auch wenn wir uns das tapfer immer wieder sagen: eine Impfung, die alle drei Monate aufgefrischt werden muss und dennoch vor einer Infektion nicht schützt, ist eine Fakeimpfung.

Alle sind jetzt dreifach geimpft und haben trotzdem Corona. Nicht mal die Tests zeigen die Wahrheit: Leute mit Corona sind negativ, Leute ohne Corona sind positiv. Falschnegativ und falschpositiv. Falschnachrichten sind Fakenews. Weil der letzte Kampf der der Worte ist, senden amerikanische sowie russische Sender seit Jahren News gegen Fakenews, die selber Fakenews sind.

Wohin kann man noch gehen?

Wem noch glauben? Ämter, Ärzte und Apotheken sind vertrauenswürdig. Sie haben großen Andrang und sind rund um die Uhr geöffnet. Die Angestellten arbeiten im Schichtbetrieb. Sie schlafen dort ggf. auch. Das dürfen sie, weil sie auf systemrelevantem Boden arbeiten. Der Boden wird geschützt von einer Desinfektionsmittelschranke und gelangweiltem Security-Personal. Das Personal fragt: Kann ich Ihren Nachweis sehen.

Auch die Kontrolleure in der Bahn fragen: Kann ich Ihren Nachweis sehen.

Nein, sie sagen gar nichts. Sie stehen wortlos vor mir und formulieren nichts. „Fahrkarte oder Impfpass?“ frage ich und suche in meiner Tasche nach meinem Handy. Auf meinem Handy ist alles: Fahrnachweis, Impfnachweis. Auch Kaufnachweis, Suchtnachweis, Bewegungsnachweis und Nachweis aller 543 unbedingt notwendiger Kontakte. Mein Handy ist an. Also lebe ich. Ich reiche es den gelangweilten Kontrolleuren. Mein Leben ist in ihrer Hand.

Postpandemische Überlegungen

Es ist zu arbeiten, aber erst ist das Kind in die Kita zu bringen.

Es ist das Kind in die Kita zu bringen aber erst ist das Kind zu testen. Das Kind will krank sein.

Es ist zu arbeiten aber erst ist ein Testzelt aufzusuchen.

Es ist zu arbeiten, aber erst ist zur Arbeit zu fahren.

Es ist zu arbeiten, aber erst muss noch ein Zugticket gekauft werden. Und ein Pausenbrot. Und Kaffee.

Es ist zu arbeiten, aber erst muss ein Gespräch darüber erfolgen, wie man noch besser arbeiten kann.

Es ist zu arbeiten, aber L. möchte sich treffen.

L. ist zu treffen aber es ist schon spät geworden also ist jetzt das Kind abzuholen.

Wäsche ist aufzuhängen und Geschirr einzuräumen. In der Pandemie haben die Kinder das mittags nach dem Homeschooling gemacht. Jetzt macht es niemand.

Es ist Pause zu machen aber erst müssen die Kindergeburtstagseinladungen verschickt werden.

Es sind Einladungen zu verschicken aber erst sind Einladungen zu basteln.

Es sind Einladungen zu basteln, aber erst muss der Kalender geupdatet werden. Ich kann nicht: wenn andere Termine sind, wenn Fahrt zur Kita ist, wenn ich selbst unterwegs bin, wenn ich schlafe. Ich kann: zu allen anderen Zeiten.

Es sind Kinder frühzeitig ins Bett zu bringen aber erst sind Pausenbrote wegzuwerfen.

Es sind Pausenbrote wegzuwerfen und dabei wird gestritten, wer am Wochenende das Grillgut mitbringt und wer wo übernachten darf.

Es ist zu schlafen aber erst sind alle nichtpflichtigen Termine wieder abzusagen.

Ich lösche aus dem Kalender: Sommerfest, Elternabend, Theaterbesuch, Spielplatzverabredung, Gemeindepicknick, Mittagessen mit L…. und bin trotzdem noch nicht Herrin der Zeit, weil ich den Wecker wieder auf halb sieben stellen muss.

Coronatagebuch Tag #60

Es ist eine Lüge, dass man zu mehr kommt, wenn man mehr Zeit hat.

Zum Beispiel habe ich trotz eines wirklich immensen Zeitfensters auch in diesem Jahr noch nicht mit der Steuererklärung begonnen.

Man schafft es auch nicht, mehr Sport zu treiben. Ich habe es gar nicht erst versucht, weil ich weiß, dass es nicht geklappt hätte. Wer hingegen vorher schon Sport gemacht hat, macht jetzt genausoviel Sport, nur anders. Joggen anstatt ins Fitnesscenter z.B.

Man schafft auch die 1001 verhassten Aufgaben nicht in dieser gedehnten Zeit unterzubringen. Wie förmliche Briefe schreiben, ein Brett anschrauben, eine Wand streichen, endlich ein Fotoalbum aus allen irgendwo abgelegten Bilddateien zu machen. Einmal die Woche oder wenigstens einmal im Monat was Leckeres zu backen, funktioniert ebensowenig. (Auch hier gilt: wer vorher schon regelmäßig gebacken hat, tut das natürlich weiterhin).

Nachdem ich die Situation nun 60 Tage lang eingehend studiert habe, bin ich zu der gesicherten Erkenntnis gekommen: wenn mehr Zeit vorhanden ist, werden auch einzelne Aufgaben größer.

Am meisten Zeit haben Kleinkinder. Sie haben vom Aufstehen bis zum Schlafengehen einfach immer Zeit. Für alles. Müssen aber fast nie was.

Für Kleinkinder sind deshalb auch einzelne Aufgaben viel größer als für solche Leute, die weniger Zeit dafür haben. Sollen sie z.B. den Tisch decken oder eine kleine Pfütze Wasser aufwischen, winden sie sich unangenehm berührt ob der endlos langen Zeit, die das dauert. Nach einer Sekunde ist für sie gefühlt eine Stunde vergangen und sie geben auf, weil sie ja doch nicht fertig werden, und das obwohl sie es wider besseren Wissens sogar versucht haben.

So ist es mit den Kindern und der Zeit. Ich sollte nach der Pandemie ein Buch veröffentlichen mit dem Titel „Kinder und Zeit. Antagonisten im Jahr 2020“. Aber dafür hab ich ja keine… genau.

Coronatagebuch Tag #43

Ich soll nicht Alkohol trinken und dabei Corona-News lesen Ich soll nicht Alkohol trinken und dabei Corona-News lesen Ich soll nicht Alkohol trinken und dabei Corona-News lesen Ich soll nicht Alkohol trinken und dabei Corona-News lesen Ich soll nicht Alkohol trinken und dabei Corona-News lesen Ich soll nicht Alkohol trinken und dabei Corona-News lesen Ich soll nicht Alkohol trinken und dabei Corona-News lesen Ich soll nicht Alkohol trinken und dabei Corona-News lesen Ich soll nicht Alkohol trinken und dabei Corona-News lesen Ich soll nicht Alkohol trinken und dabei Corona-News lesen Ich soll

Weil: Ich habe am nächsten Tag schlimme Kopfschmerzen. Und überhaupt: Ich wäre auf jeden böse, der sowas Bescheuertes wie ich machen würde.

Wochenrückblick

Gegessen: Reis mit Gemüse (gekocht vom Kind, das so etwas nieee essen würde, außer, es kocht selbst), zweimal Nudeln mit Tomatensoße, Bulgur mit Putenfleisch, Kartoffelbrei mit Rotkraut und Würstchen.

Geguckt: Pandemic (schlechter Zweiteiler, NICHT gucken, außer ihr wollt euch das Gefühl injizieren, Filme bildeten die Realität ab), Frozen (mit den kleinen Kindern), Rico und Oskar und die Tieferschatten (mit den großen Kindern – wobei das mittlere Kind beide Filme sehen durfte), Fridays for Future live bei YouTube, Urbarium live auf Instagram, drei bis sechs Zoom-Events (werden uns definitiv mehr Geräte für die Familie anschaffen müssen).

Gereist: Erstmals. Mit dem Auto (das ziemlich eingestaubt war und nur unwillig starten wollte) einmal quer durch die Stadt in ein fremdes Viertel. Hier findet also der Klavierunterricht statt. Es sieht alles aus wie früher. Die Sonne scheint, Menschen gehen spazieren, warten auf den Bus, Kinder spielen auf dem Rasen. Wir laufen mit Schutzmasken durch diese Szenerie und fühlen uns, als wären wir von einem Seuchenkommande geschickt worden. Tochter: Das ist so peinlich, Mama! Mama: Tochter, stell dir einfach vor, wir sind zwei Notärzte, die zu einem wichtigen Einsatz gerufen wurden! Tochter: Och nö, wir gehen doch nur zum Klavierunterricht (dort wird die Maske aber benötigt, und wir setzen sie vorher rechtzeitig auf! Darum!)

Gearbeitet: Etwas mehr als bisher. Vor allem Dinge kommuniziert, Gesagtes abgetippt, Dinge verschoben und neue Dinge gestartet.

Gehört: Beatles, Paul Kalkbrenner, Tschaikowskij, Dominik Bär.

Gekauft: Hose, Toner, Kies, Sand, Tomatenerde, Masken (diverse)

Konzentration auf einer Skala von 1 bis 10: 2