Das Dorf meiner Träume

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Einmal im Jahr fährt die Landfamilie zu ihrem kleinen Lieblingsfestival. Das muss so sein.

Das Leben in der Festival-Blase ist anstrengend. Man muss Wasser über weite Strecken tragen, man verbrennt in der Sonne, man will einmal in 48 Stunden duschen und dann geht das Wasser nicht, oder man will seine Lieblingsband hören, für die man immerhin rund 300 Kilometer gefahren ist, und dann will stattdessen das Lieblingskind mit einem in einen kleinen Wald laufen und dort Wolf spielen.

Gleichzeitig ist das Leben in der Festival-Blase heiter, lebendig und intensiv, und das so sehr, dass man sicher ist, den Moment eingefangen zu haben und es niemals wieder aufhören wird. Man ist sich so sicher.

Umarmungen, pseudosportliche Spiele bei hohen Temperaturen, Kuscheln auf orientalischen Teppichen. Gebete, laut ausgesprochene Gedanken, Blicke, Knicklichter. Fremde Menschen, die schnarchen oder ihre Kinder fragen: „Hast du A-a gemacht?“, Fremde, die sich zu deinen Freunden erklären und dir deine Füße waschen wollen oder Zeitschriftenabos verkaufen. Und Sanitäter, die den hingefallenen Kindern saure Würmer schenken anstatt sie zum Röntgen ins Krankenhaus zu fahren und das hilft wirklich.

Das ist die Realität, nach der ich 361 Tage im Jahr suche.

361 Tage, an denen ich träume, unser Dorf wäre so ein Festival.

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Das Dorf als Festival – das Dorf meiner Träume

Wir haben nachts ganz gut oder aber gar nicht geschlafen.

Die Wärme treibt uns aus unseren Häusern. Wir sehen strubbelig aus, gähnen, nicken uns zu. Die Kinder rennen über den Platz, in den Sachen, die sie gestern schon anhatten. Die ersten Gaskocher zischen.

Ich stehe mit meinen Nachbarn an der Dorftoilette an und putze mir schnell die Zähne. Wasser läuft aus dem Schlauch. Ich frage eine Nachbarin, wie es gestern Abend so war. Ein Nachbar schlägt vor, zum Frühstücken zu dem leckeren örtlichen Frühstücksclub zu gehen. Ich sage zu.

Wir frühstücken, obwohl es schon 10 Uhr ist. Wir sind ungekämmt, haben wenig an und genießen es. Die Kinder rennen herum und klettern auf die Skulpturen, mit denen unser ganzes Dorf geschmückt ist. Einhörner und Hexenhäuschen aus Holz, Windspiele aus Metall, Spiegel. Ständig wird gesägt und gebaut. Der Spielplatz für Erwachsene erhält heute eine neue Hollywoodschaukel, einfach nur weil jemand Lust hatte, sowas zu bauen. Ob wir da mal vorbeischauen sollen?

Vereine, Kirchen und der Kindergarten sind offen für alle. Undurchsichtige Mitgliedschaften oder geheime Treffen zu geheimen Uhrzeiten gibt es nicht. Man findet alle öffentlichen Gebäude leicht, wenn man den Holzschildern folgt.

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Im Kindergarten kann man kommen und gehen wann und wie man will. Die Kinder spielen mit was und wie lange sie möchten. Die Hälfte der Erzieherinnen sind Männer.

Die Kirche hat offene Wände, die mit Stoffbahnen aus Ballonseide verhangen sind. Zu bestimmten Uhrzeiten ist die Kirche brechend voll, und das mehrmals am Tag und sogar mitten in der Nacht. Dann hört man das Singen, Beten und manchmal auch das Weinen durchs halbe Dorf. Ein paar Erschöpfte, oder welche, die keinen Platz mehr gefunden haben, sitzen rund um die Kirche, trinken Bier und warten auf eine Erkenntnis.

Mittags stelle ich mich zusammen mit einer Nachbarin und ihren Kindern bei einem der zahlreichen Cafés und Imbissen im Dorf an. Einige brutzeln das Essen auf Grills oder in halboffenen Wagen auf der Straße. Es ist immer köstlich. Wir müssen das Essen bezahlen, aber das ist es uns wert. Schließlich verbringen wir durch das Essen im Freien Zeit miteinander, und Zeit ist kostbar. Sie geht und kommt niemals wieder.

Wir lernen uns beim Essen besser kennen, wir schmieden gemeinsam Pläne, für den Tag oder fürs ganze restliche Leben. Wie absurd die Vorstellung, dass jeder im Dorf um dieselbe Uhrzeit in sein eigenes Haus gehen sollte, wo dann alle zeitgleich die Gas- oder Stromzufuhr anwerfen um an hundert verschiedenen Stellen gleichzeitig Essen warmzumachen, das sie nur mit ihrer engsten Familie teilen. Die Kinder wollen doch sowieso nie am Tisch sitzenbleiben und träumen schon nach dem ersten Bissen wieder vom Herumtoben und Umherstreunen. Völlig absurd!

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Nachmittags, wenn es am heißesten ist, ist es für die Müdesten unter uns Zeit, sich schlafen zu legen. Sie legen sich auf Bänke, auf Decken, mitten auf der Wiese. Süß sehen sie aus, eingekuschelt oder alle Viere von sich streckend. Andere gehen zu einem Seminar oder einer Sportstunde oder zu einem Bastelworkshop, je nachdem, was in der Nachbarschaft heute so angeboten wird.

Die größeren Kinder versammeln sich in der Ecke des Dorfes, wo sie sich unter der Anleitung der Junggebliebenen mit Skateboard, Baumklettern und Stöcke-Weitwurf beschäftigen, Grafittis sprayen, auf Instrumente eindreschen oder weiter an einer Geisterbahn bauen.

Die Eltern von Babys und Kleinkindern erkennt man an ihren vielen verschiedenen Tragevorrichtungen und Arten, Kinder in Wagen, Buggys, Bollerwagen, Fahrradanhängern und Trolleys vor sich herzuschieben. Väter tragen und schieben ihre Kleinen genauso häufig wie Mütter. Sie tragen und schaukeln die Kleinen in den Schlaf, während die Mütter seufzend ihre Füße im Planschbecken kühlen.

Wenn der Abend naht, erwacht das Dorf aus seiner Lethargie. Die Kinder bilden Banden und flitzen im Düsteren herum, als gäbe es kein Morgen. Die Erwachsenen überlegen, wieviel Bier sie wohl vertragen. Manche flirten. Manche streiten. Manche waschen ihr Geschirr oder stellen sich unter die Dusche. Man sieht und hört alles.

Abends und nachts läuft in den verschiedenen Gärten unterschiedliche Musik. Man kann zu Nachbar A gehen, bekommt dort für ein wenig Geld Pfannkuchen und die besten Surfhits. Im Garten von Nachbar B wechseln sich Sänger an der Gitarre ab, währenddessen kann man sich Zöpfe flechten lassen oder oder ein Bild malen. Bei Nachbar C gibt es Bier, Geschrei und Gestampfe zu bestem Metal. Und dann gibt es noch den Park, in dem elektronische Musik aus den Bäumen perlt, Cocktails fließen und Leute aller Altersstufen sich im Takt wiegen, bis der Morgen graut.

Das ist das Dorf meiner Träume. An 361 Tagen im Jahr.

Ich platze mitten hinein

Wenn ich mich ins Auto setze und nach zwei Stunden Fahrt in meiner ehemaligen Welt wieder auftauche, ist zwar vieles unwirklicher, ungreifbarer geworden. Ich wundere mich dann darüber, wie viele Kinder es gibt. Die, die keins hatten, haben nun eins, die die eins hatten, haben nun zwei, und so fort. Ich hab keine Ahnung zumeist, wie die Kinder heißen. Die sind alle klein und laufen so kreuz und quer.

Auch die Realität der Erwachsenen ist schwammig geworden. Ich bekomme sie nicht mehr haargenau mit, die Jobwechsel und die Geldsorgen, die Urlaubspläne und Partyvorbereitungen.

Ich platze nach zwei Stunden Fahrt mitten in etwas hinein und muss erstmal aufs Klo, anstatt vorher schon mitgefiebert oder mitgeplant zu haben. Ich stehe einfach nur da, während die anderen schnelle Entscheidungen treffen, kochen, auftischen, herumwerkeln, losmüssen, wiederkommen. Das lässt mich ein bisschen langsam wirken. Vielleicht bin ich aber sowieso langsamer geworden.

Aber etwas ist gleich geblieben: Ich kann reden. Mit vielen. Über sehr Unterschiedliches. Zu allen Gesprächen bleibt mir ein Bild im Kopf zurück, das mir diesen Gesprächspartner in seiner Welt zeigt und der sich sofort untrennbar mit dem Namen dieses Menschen verknüpft, selbst wenn ich diesen Menschen auf meinem Besuch bei Freunden gerade erst kennengelernt habe.

„Ich bin so ein Barista-Typ“, sagt mir eine junge Frau mit dem Namen S., und obwohl ich noch nie in dem Café war, in dem sie bedient, denn es hat nach meiner Zeit aufgemacht, kann ich mir (vielleicht dank den Instagram-Bildern meiner Freunde) vorstellen, wie sie dort steht. Ihren Namen und ihr Gesicht vergesse ich nicht.

„Meine Eltern haben viele Kinder in die Welt gesetzt“, erzählt mir jemand namens A., den ich ebenfalls noch nie zuvor gesehen habe, aber mir sagt der Name seines Stadtteils was, und wie seine Eltern auf der Etage eines Hochhauses drei Wohnungen zu einer zusammengelegt haben, kann ich mir lebhaft vorstellen. Auch diesen Menschen vergesse ich nicht.

Manche erzählen mir, was ihre Airbnb-Vermietungen so machen. Andere sind sehr müde, weil sie gerade um den halben Erdball geflogen sind oder die ganze Nacht lang gebacken oder genetflixt haben. Aber egal, wie der Status gerade ist, wir verknüpfen die losen Fäden sofort wieder zu einem Gespräch, das dort weitergeht, wo es vor einigen Monaten, beim letzten Besuch, oder zwischen Facebook und Instagram, verlorenging.

Schwierig wird es eigentlich nur mit den ganz wenigen Menschen, die mir sehr, wirklich sehr viel bedeuten. Stehen wir plötzlich voreinander, nach Monaten der Funkstille (es gibt zwar Facebook, Twitter, WhatsApp, aber was die da schreiben, bleibt dennoch immer seltsam entfernt), fällt mir nicht ein, an was ich anknüpfen könnte. Und ich merke, diesen Menschen geht es ebenso – ich weiß aber nicht, ob das an meiner Unsicherheit liegt, die sich auf sie überträgt, oder ob sie vielleicht zuerst unsicher waren, bevor ich es wurde, oder ob es etwas Allgemeineres ist.

Zu viel steht zwischen uns. Zu viel des „was machst du jetzt, wie geht es dir jetzt“, was man aber lieber nicht fragen möchte, da es, egal wie man fragt, immer zu abgedroschen klingt. Und man will es doch in den wenigen Minuten, die man sich sieht, schön zusammen haben. Man will die Freundschaft feiern, den Augenblick, und nicht die Statistik zwischen dem letzten und dem heutigen Treffen akribisch aufarbeiten. Es muss ästhetisch werden, Ästhetik und gestillte Sehnsucht und Aha-Momente um jeden Preis.

Dann hilft nur Alkohol, um so etwas wie zu den alten Zeiten zurückkehren zu können. Zu den Zeiten, in denen wir gemeinsam lachten, weinten, stritten, arbeiteten, beteten und faulenzten und Quatsch-Videos guckten.

Manchmal wünsche ich mir, diese Freundschaft(en) nicht mehr immer wieder neu einfädeln und halten, überdenken und stilisieren, überwachen und weglachen, heimlich überhöhen, öffentlich aber als selbstverständlich darstellen zu müssen. Ich möchte die Dinge nicht mehr in der Hand haben. Ich will, dass jemand anderes den Roman schreibt, in dem ich nur vorkomme. Egal, was mit mir passiert. Egal.

Friday Fives. Gedanken am Ende der Woche

Was hier so hübsch aussieht, war eine halbe Stunde später schon Müll

Was hier so hübsch aussieht, war eine halbe Stunde später schon Müll

Friday Fives am Samstag. Oder:

Fünf Dinge, für die ich diese Woche dankbar bin.

  1. Der Kindergeburtstag.
    Eine Woche nach der Einschulung gleich Geburtstag, da kam eine Menge an Materialien zusammen, die sich nun entweder im Kinderzimmer oder im neu eingeweihten Legozimmer türmen oder in Form zerrissenen Papiers in die Papiertonne wanderten. Dankbar bin ich für die Runde aus insgesamt 5 Mädels, die ich noch nicht alle gut kannte, die sich aber als so harmonisch herausstellte, dass ich mich streckenweise fragte, ob irgendetwas nicht in Ordnung ist.
    Keiner rutschte beim Essen unter den Tisch, es wurde nicht einmal laut geredet. Alle aßen eine annehmbare Menge und fast alle machten ihre Teller leer. Keiner sagte, ihm sei langweilig. Keiner wollte mit der Deko spielen. Es gab keinen Tumult im Kinderzimmer, nur mit einem leisen „Pssst, wir machen hier was Geheimes!“ wurden die Erwachsenen des Zimmers verwiesen. Das „Geheime“ war das Anfertigen von Schatzkarten, von denen ich hinterher sogar eine geschenkt bekam. Und: Nicht der leiseste Streit der Gäste um ihre Geschenke, die sie bei der Schatzsuche fanden, auch wenn die Playmobilfiguren willkürlich zugeordnet wurden und ich vorschlug, wem seine nicht gefällt, dürfe tauschen.
    Achja, Vorlagen für die Flaggen auf Cupcakes und Kuchen gibts hier. Ich bastele sonst nie was zum Geburtstag, müsst ihr wissen.
  2. Unsere Kinder schlafen in Betten. Jede Nacht in demselben. Naja, fast. Wenn wir mal draußen schlafen, dann nur zur Gaudi und nur bei zweistelligen Temperaturen. Diese Kinder hier nicht.
  3. Ich war für 2 Tage in der Stadt, in der ich 18 Jahre gelebt habe.
    Ich fahre Straßenbahn und sehe aus dem Fenster und ich sehe nicht nur das, was da vorbeifährt, sondern ich sehe alles, alle Menschen, zu allen Zeiten. Sehr großes Heimweh. Aber auch das Gefühl gibt es nicht ohne Dankbarkeit für eine zwar vergangene, aber sehr reiche, bunte und offene Zeit.
  4. Die Sonne scheint die ganze Woche. Der Himmel ist so blau, dass es weh tut. Letzte Gelegenheit, Pflanzen umzutopfen. Ich bin froh, dass ich das geschafft habe. Auch wenn mir die Sonne eigentlich fast zu hell dazu war und ich dabei die ganze Zeit dem Baby hinterherfegen musste.
  5. Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen. Wie auch immer dieser Spruch zu interpretieren ist: Ich bin dankbar, dass ich diese Woche mein „Dorf“ um mich hatte, das sich um meine Kinder gekümmert hat. Ob Vater, Nachbarn, Großeltern, Tante: Wenn das mein „Dorf“ ist, dann war es zumindest diese Woche sehr präsent. Die Kinder haben es geliebt und ich wünsche mir solche Freiräume öfter, wäre da nicht auch immer die Furcht, anderen auf den Wecker zu fallen. Dumm, oder. Kennt ihr das?

Mehr Friday Fives gibt es bei Buntraum.

Mutter-Kind-Kur, 1. Tag. Ich habe viel Zeit

2014 war ich mit meiner damals Vierjährigen in der Mutter-Kind-Kur im Schwarzwald. Wie es dort war, erzähle ich hier im Rückblick.

Alles hat seine Zeit. Ankommen hat seine Zeit. Zwischen Wasser und Kirschsaft wählen hat seine Zeit. Abendessen hat seine Zeit und beginnt schon um 17:45 Uhr. Die restliche Zeit des ersten Tages liegt man in seinem Zimmer auf dem eher nach Jugendherberge aussehenden Bett und vermisst: Internet, Zahnputzbecher, Löffel, Gabel, Messer und Termine jeglicher Art.

„Wird dir schon nicht langweilig werden“

hat die beste Freundin geschrieben. Und mir ist so langweilig, dass ich, nur um etwas zu tun zu haben, wie ein Teenie, sofort dreißig SMS zurückschreiben könnte.

Alle Beiträge zu unserer Mutter-Kind-Kur gibt es hier.