Coronatagebuch Tag #91

Holunderblüten, Kirschen und Erdbeeren sind verschwunden. Eingekocht oder aufgegessen. Die meisten Salate auch. Tomaten- und Kartoffelblüten wagen sich hervor. Der Juni ist feucht. Unser Garten macht Pause. Hat Pause. Von der Trockenzeit, die eine Ewigkeit dauerte.

Wie kann etwas, das eine Ewigkeit dauerte, vorbei sein?

Ist dieses „nur notwendige Besuche“ wirklich schon wieder vorbei? Den Gartenpartys nach zu urteilen, ja.

Parallel fängt im Kindergarten der Abstandstanz gerade erst an.

Die meisten nichtsystemrelevanten Kinder haben die letzten drei Monate in einer Traumwelt verbracht. Anstatt sie frühmorgens zu wecken, in Jacke und Matschhose zu stecken und im Auto zu einer geschlossenen Einrichtung zu bringen, die sie bis zum Abholen nicht mehr verlassen dürfen, sind sie mit Ausschlafen, Gartenpartys, Filmnachmittagen, Höhlenbauen und Waldspaziergängen verwöhnt worden. Haben nach anfänglicher Pause die besten Freunde wiedergetroffen und sind noch besser befreundet als eh und je. Wissen nichts über respirationswiderständige Stofflagen vor dem Mund, weil sie ja zu jung sind, um diese tragen zu müssen.

Im Kindergarten darf J. mit seinen Coronazeit-Freunden S. und L. spielen, die mit ihm zusammen in der Gruppe sind. Vielleicht will er das aber auch nicht, weil er etwas älter ist als sie und sich schon wieder sehr auf die anderen Schulanfänger in seiner Gruppe freut.

M. darf aber nicht mehr mit ihren Coronazeit-Freunden S. und L. spielen, weil sie in der anderen Gruppe ist. Gruppen dürfen einander strikt nicht begegnen. Vielleicht will M., die noch nicht ganz eingewöhnt war, die penibel ihre Hände wäscht und die sagt „im Kindergarten habe ich Angst, dass ich andere anstecke“, wieder viel mit den Erziehern oder in der Kuschelecke kuscheln. Beides ist aber nicht erlaubt. Die Erzieher lehnen Nähe aufgrund der Regelungen ab. Sie haben alles, was zum Kuscheln einlädt, weggeräumt.

Vielleicht würde M., in ihrem vierjährigen Eifer alles richtig zu machen, nach anfänglichem Zögern Nähe aber auch gar nicht mehr dulden. Vielleicht wäre sie aus Selbstschutz sogar die Unbarmherzigste beim Aufdecken der Vergehen anderer Kinder (wie vertauschte Becher, zur falschen Tür reingekommen, zu dicht nebeneinander gespielt, gepopelt, Seife vergessen etc.)

Wird es diese Kontaktverbote jemals wieder geben und wenn ja, wüssten wir sofort wieder, was zu tun ist?

Würden wir beim nächsten Mal die Großeltern wieder ein halbes Jahr lang nicht in den Arm nehmen oder würden wir sagen, ach was solls.

Wahrscheinlich wüssten wir, wer sich unbedingt daran halten möchte und wem die Regeln egal sind. So wie man weiß, dieser zuckt bei Lärm immer zusammen, jener nicht. Dieser möchte immer lüften und legt das Besteck ordentlich in die Schublade, jener nicht. Jedem das seine.

Coronatagebuch Tag #90

Die Sorgen der Eltern

Eltern gehen mit Kleinkindern fünfmal am Tag Händewaschen

Eltern sagen jeden Tag: Aber nur noch eine Sendung, dann reichts

Eltern umarmen andere Eltern AUF DER STRASSE

Eltern haben Angst vor Impfungen

Eltern haben Angst vor Ansteckung

Eltern haben Existenzangst

Eltern wollen nicht einmalig 300 Euro Kindergeld

Eltern sind #coronaeltern und #elterninderkrise

Eltern sind auch mal alleine zu Hause

Eltern besuchen andere Eltern, um mal zu schlafen

Eltern treffen sich mit 5 Metern Abstand zur Kita-Leiterin, um den 1,5-Meter-Abstand zwischen den Kindern infrage zu stellen

Eltern beziehen die neuesten Nachrichten über WhatsApp, die Seite vom Landtag, die Stuttgarter Zeitung und über irgendwas24.de, um herauszufinden, ob ihre Kinder bald wieder in den Kindergarten dürfen

Eltern bringen ihre Kinder bald wieder in den Kindergarten oder auch nicht

Eltern haben Angst vor der Schulöffnung, weil dann das Leben wieder um 6 Uhr morgen losgeht und um 10 Uhr schon wieder das Mittagessen vorbereitet werden muss

Eltern haben immer mehr Termine und nehmen ihre Kinder einfach mit ins Büro, zur Besprechung im Café, zum Arzt

 

Ein Satz stimmt nicht.

Kitas und Kindis. Oder: Fischstäbchen vs. Waffeln. Achtung Klischeewarnung

Wenn ich über Kindergartenplätzemangel, Kindergartenmittagessen und Kindergartenöffnungszeiten lese, also in den Medien oder auf Blogs, dann wird dieses lange Wort K-I-N-D-E-R-G-A-R-T-E-N meist so abgekürzt: Kita.

Die Kitas

Kitas haben endlose Fluren mit einer unendlichen Anzahl an Haken. Kitas riechen nach Kartoffelbrei- und Fischstäbchen-Dunst. In Kitas treffen die Eltern, die sich mit dem Fahrradanhänger durch den Morgenverkehr gequält haben und nach der Kinderabgabe schnell wieder gehen müssen, nur für ein paar Millisekunden aufeinander. In Kitas gibt es Schwarze Bretter voller Zettel mit Angeboten von der Caritas, dem Kinderschutzbund, der Psychologischen Beratungsstelle, dem Frauenhaus, auf Deutsch, Türkisch, Arabisch und Russisch.

Die Kindis

Und dann gibt es noch die Kindis. Das sind die Dorf-Kindergärten, die einfach nur rundum süß und lieb und vertrauenserweckend, sauber und übersichtlich sind. Kindis haben auch mal nur zehn Kindern pro Gruppe. In Kindis wird täglich draußen gespielt, und vor der Abholzeit wird laut und sauber(!) bekanntes Liedgut gesungen.

Kindi-Eltern basteln nicht nur die Laternen (sowieso eine Selbstverständlichkeit), sie  bauen auch Brunnen, Hochbeete, Bänke, Spielgeräte und Haltestellenwartehäuschen. Die Mütter kommen nicht nur zum Muttertag in den Kindi, sondern auch jeden Monat zur gemeinsamen Andacht. Und wenn etwas gebacken, jemand verabschiedet, Päckchen für arme Leute gepackt oder sonstwo geholfen werden muss, sowieso.

Im Kindi kennt jeder jeden aus anderen Zusammenhängen als aus dem Kindi. Die Mutter, die neben dir in der Garderobe ihren Nachwuchs zur Eile antreibt, ist entweder deine direkte Nachbarin, die Mutter eines guten Spielkameraden eines deiner Kinder, deine Sandkastenfreundin oder deine Schwägerin. In der Regel alles zusammen. Trifft keiner der vier Bekanntsheitsgrade zu, bist du vermutlich nicht von hier.

80 Prozent der Kindi-Eltern stehen nach vier Stunden schon wieder abholbereit im Gruppenraum, den sie selbstverständlich betreten dürfen. Denn ein Kindi mit Regelöffnungszeiten (RÖ) hat nur 4 Stunden auf. Aber auch in einem Kindi mit Verlängerten Öffnungszeiten (VÖ) von 6 Stunden werden Kinder nicht die volle Zeit geparkt. Vier Stunden, das reicht schon. Zum Mittagessen sind alle wieder daheim.

Kindergartenplätzemangel, Kindergartenmittagessen und Kindergartenöffnungszeiten?

Liefern auf dem Dorf wenig bis gar keinen Gesprächsstoff. Die Kindi-Plätze müssen natürlich belegt werden, sonst wird wegen Kindermangel wieder eine Gruppe geschlossen. Soviel ist klar. Wir Dorfeltern sind also dazu verpflichtet, weiterhin für Nachwuchs zu sorgen, so sagte es uns jedenfalls der Pfarrer.

Warmes Essen gibt es im Kindi nie (bis auf Ausnahmen wie gemeinsames Waffelbacken), das wäre ja auch komisch, weil alle Haushalte (oder wenigstens die Oma-Haushalte) mittags ein warmes Essen für die Kindi-Kinder auf den Tisch stellen können. Die Öffnungszeiten bleiben also erstmal so. Mit 6 Stunden VÖ haben wir hier auch nichts zu meckern. Es gibt weitaus Schlimmeres!