Freitagnachmittag. Momentaufnahme

„Da kam kein Becher raus!“

Das sechsjährige Mädchen ruft das quer durch die Filiale des Discounters. Sie klingt sehr bestimmt.

Ich bin in die Stadt gefahren. Eigentlich will ich hier nur parken und weiter zur Bank. Aber dann wollen die Kinder Brezeln. Also gut. Ich betrete den Discounter, um das allseits beliebte Gebäck aus dem Backautomaten zu ziehen.

Ein Mitarbeiter erscheint. „Wo kam kein Becher?“

„Hier!“ Das Mädchen zeigt auf den neuen Getränkeautomat. „Ich wollte Kakao und da kam kein Becher.“

Also verlässt der Mitarbeiter seinen überfüllten Laden, um sich die Sache mal anzusehen.

Der neue Getränkeautomat ist sehr beliebt. Er ist noch vor der Durchgehschranke aufgebaut, dort, wo man auch die Wagen abklipsen kann. Ein junger Mann steht davor, trinkt aus seinem Becher, ruft in sein Handy: „Ich hab es jetzt abgeschickt. Hast du es nicht bekommen?“ Er spricht sehr deutlich, weil er unbedingt verstanden werden will. Und dann steht die ganze Familie des kleinen Mädchens da. Mama, Papa, zwei kleine Brüder. Jeder mit seinem Freitagnachmittaggetränk in der Hand. Nur das Mädchen hat nichts bekommen.

Um diese Zeit ist es auch bei uns im Dorf-Discounter immer etwas voller als sonst. Aber ganze Familien sehe ich hier nicht. Und auch selten Männer. Der gemeine Mann geht nicht einkaufen. Das ist Frauensache. Und das Handy bleibt in der Tasche. Oder gleich zu Hause. Und wenn der Automat keinen Becher bereitstellt, dann ist das eben so. Das muss ein Kind schonmal aushalten. Wo kämen wir hin, würde jedes Kind direkt die Mitarbeiter anquatschen, wenn ihm irgendetwas nicht passt. Gar nicht mehr zum Arbeiten kämen die. Das Kind könnte doch etwas für sich aus der Situation lernen. Das man nicht immer alles haben kann, zum Beispiel. Außerdem hat es sowas früher auch nicht gegeben.

Im Stadt-Discounter aber scheint jeder sein Handy eigens zu dem Zweck mitgenommen zu haben, um es hier auch zu nutzen. Wenn er nicht gerade einen der Mitarbeiter am Arbeiten hindert. Es ist eine stille Abmachung zwischen allen: Wir haben den öffentlichen Raum besetzt. Nicht mit Gewalt, sondern allein durch unsere Präsenz. Er gehört uns, uns allen. Würde man ihn uns wieder wegnehmen, dann würden wir ganz sicher darum kämpfen. Wie um den Becher, der da nicht rausgekommen ist.

Eine eine junge Frau fotografiert ihren Liebsten mit ihrem Smartphone, während die beien seelenruhig auf der Packablage sitzen – der Ablage, auf der man, nachdem man bezahlt hat, seine Waren ablegen kann, um sie einzupacken. Man kann aber auch einfach nur darauf sitzen, mit den Beinen baumeln und Fotos machen.

Das heißt, im Stadt-Discounter geht das. Im baugleichen Dorf-Discounter würde der Kassierer die junge Frau und ihren Liebsten wohl bald fragen, was sie da machen, und wie lange sie noch beabsichtigen, dieses zu machen. Der Kassierer hätte aber auch nicht so viel zu tun. Er würde eine Pause in der Kundenschlange nutzen, um den Kopf zu heben. Dabei würde ihm das junge Paar auffallen, das aber in ebendieser Sekunde aufspringen und rausgehen würde. Weil sie nicht gefragt werden wollen, was sie da machen. Weil die Frau des Kassierers eh die Friseurin der Familie ist. Und die junge Frau keine Lust hat, demnächst von der Friseurin gefragt zu werden, wann sie ihren Liebsten denn endlich heiraten will. Der Kassierer würde also nur den Kopf schütteln und einen Schluck aus seiner Sprudelflasche nehmen, bevor er wieder an die Arbeit geht.

Aber in der Stadt nimmt sich der Liebste Zeit beim Fotografiertwerden. Er lächelt. Es soll ein gutes Bild werden. Keiner interessiert sich für das Duo auf der Packablage. Ach ja: Der Getränkeautomat geht wieder. Der Mitarbeiter hat seinen Schlüssel in den Automat gesteckt und einmal umgedreht. Dann ist er schon wieder gegangen, zurück ins Gewühl seiner Filiale.

Das Mädchen hält seinen Kakaobecher in der Hand und ruft laut hinter ihm her: „Dankeschön!“

Woher kommst du?

Das Supertalent: Eine Castingshow, so innovativ wie ein Brett.

In dem hier verlinkten Ausschnitt fragt Showmaster Dieter Bohlen ein fünfjähriges Mädchen mit asiatischem Aussehen wiederholt, wo sie her sei. Wiederholt antwortet sie mit „Herne“, eine Antwort, mit der er sich nicht zufrieden gibt. Erst als ihre Mutter mit „Thailand“ antwortet, lässt Bohlen das gelten.

Seit dieser Beitrag im Netz gelandet ist, hab ich mir sagen lassen, diskutiert ihr alle unter dem Hashtag #vonhier darüber, ob man „Woher kommst du?“ überhaupt noch fragen darf. Und wenn ja, auf welche Art und Weise es erlaubt sei.

Ich kann dazu gerne einen kleinen Leitfaden an die Hand geben, bin ich doch selbst immer wieder Zeuge von Begegnungen zwischen Gebürtigen und Auswärtigen. Gerade hier auf dem Lande laufen sich erstere und letztere doch ziemlich häufig über den Weg. Dass das nicht immer reibungslos abläuft, ist klar. Doch Missverständnisse müssen nicht sein. Damit der Austausch zwischen beiden Gruppen harmonisch verläuft, hier die goldene Regel für Auswärtige.

Goldene Regel für Auswärtige:

Stelle dich selbst niemals ungefragt einem Gebürtigen vor. Die Gebürtigen stellen sich dir auch nicht vor. Du musst wissen, wer sie sind. Wenn du das nicht weißt, ist das eindeutig ein Zeichen dafür, dass du nicht #vonhier bist. Womit für dich nur die goldene Regel gelten kann.

Unter uns: Der Auswärtige ist ein Fremder. Ihm kann man nicht so viel zumuten. Er hat es so schon schwer genug. Die Kommunikation anstoßen und aufrechterhalten sollte daher der Kenner, der Gebürtige.

Der Gebürtige darf dem Auswärtigen immerzu jederzeit Fragen stellen. Zur Person, zu Namen, Herkunft, warum er/sie hier ist, da er/sie offensichtlich nicht #vonhier ist. Im Gegenzug muss der Gebürtige auch auf Aufforderung hin nicht erklären, wer er/sie selbst ist oder was er/sie hier macht.

Im Folgenden zeige ich die drei Möglichkeiten der Kontaktaufnahme mit Auswärtigen auf.

Die drei Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme mit Auswärtigen:

  1. „Sie sind doch die… die… die… ja genau: Sie sind doch die Frau von dem Herrn X.!“
    Damit zeigt man als Gebürtiger, dass man den Auswärtigen richtig einschätzen kann und schon im Vorfeld Informationen über ihn eingezogen hat. Der Auswärtige erhält nun die Möglichkeit zu antworten: „Ja, richtig, die bin ich.“  Weitere Fragen seinerseits wären jedoch unhöflich.
  2. „Ja, und wer bist jetzt du? Dich kenn ich gar nicht.“
    Damit zeigt man als Gebürtiger, dass man den Auswärtigen nicht kennen kann, weil es schwierig bis unmöglich ist, ihn zu kennen. Man kann ihn nicht kennen, weil man ihn bisher noch nie gesehen hat, und warum? Weil der Auswärtige von auswärts kommt. (Der Auswärtige darf sich im Gegenzug kurz vorstellen.)
  3. „Sie sind nicht von hier, woher kommen Sie?“
    Diese Frage ist die schönste Art und Weise, als Gebürtiger Toleranz und Integrationswillen gegenüber einem Auswärtigen an den Tag zu legen. Man begrüßt ihn dadurch nämlich nicht mit einer Aussage, sondern mit einer Frage. Das heißt, man fordert ihn direkt auf, etwas von sich zu erzählen. Das ist tolerant, und es integriert den Auswärtigen. Der Auswärtige darf nun, wenn er das möchte, seine Herkunft detailliert schilden. Eine ebenso detailreiche Schilderung aus Leben und Herkunft des Gebürtigen darf der Auswärtige gleichwohl nicht erwarten. Im Gegenteil: Er kann froh sein, dass er auf sein Nicht-Vonhier-Sein angesprochen wurde und darüber berichten durfte. Das ist genuge der Ehre.

 

Muss man alles teilen?

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„Kann ich für ein paar Tage auf eurer Couch schlafen?“

„Kannst du auf mein Baby aufpassen, während ich den Schrebergarten gieße? Dafür bekommst du alle Kirschen, wenn sie reif sind.“

„Kann ich meine Kisten für unbestimmte Zeit in eurer Garage abstellen?“

„Bringst du mir etwas Französisch bei? Ich zeig dir dafür, wie die Nähmaschine funktioniert.“

„Wir sitzen heute Abend am Fluss rum. Kommt ihr auch?“

Was wir teilten

Wir teilten den Alltag miteinander. Zeit, Material, Ressourcen, Quadratmeter, Essen, Trinken und Gedanken. Nebenbei ergab es sich, dass wir gemeinsam Perspektiven entwickelten, Ideen spannen und  zusammen von Freiheit und Selbstständigkeit träumten.

Von was wir träumten

Finanziell unabhängig zu sein, wünschte sich der eine. Endlich das Urteil der eigenen Eltern hinter sich zu lassen, der andere. Oder: Einen Job oder einen Abschluss zu erhalten. Bedeutung zu erlangen, in was auch immer. Die Welt zu verbessern mit seinem Talent, seinem Geld oder in seinem Job. Oder: Weiterstudieren, eine Ausbildung machen, trotz Widrigkeiten. Einen Partner fürs Leben finden. Endlich alle Traumländer bereist haben. Vielleicht ein bisschen weiter unten angesiedelt, aber genauso rechtmäßig: den Anschluss an die Gesellschaft nicht ganz verlieren.

Warum wir uns trafen

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Diese Wünsche und Träume waren es, die uns zueinander brachten und uns zusammenschweißten. Gekommen, um zusammen eine Webseite für eine Geschäftsidee zu konzipieren, blieben wir, um uns eine ganze Serie anzusehen. Gekommen, um einen Geburtstag zu feiern, blieben wir, weil das Bier so gut war. Gekommen, um beim Unkrautjäten zu helfen, blieben wir zum Abendessen oder einfach nur, um noch gemeinsam den Sonnenuntergang zu bestaunen.

Warum wir glaubten, modern zu sein

Wir redeten viel darüber, dass man heutzutage alles miteinander teilt. Wir sagten: „sharet“. Freie Zimmer oder Betten warfen wir in den Ring: Wer will hier wohnen bzw. schlafen? Dafür nahm dann jemand anderes unsere Möbel, wenn wir für ein Jahr ins Ausland gingen. Alle Kinderkleidung kursierte irgendwie zwischen allen Haushalten hin und her. Gebrauchte, aber noch funktionierende Kindermöbel, Kinderfahrräder und Kindersitze standen manchmal einfach so auf der Straße mit einem Zettel dran: Bitte mitnehmen.

Wir redeten über die Sharing Economy, meditierten über den Erfolg von Coworking, Mitfahrgelegenheit, Car Sharing und Airbnb, bis es jenseits unserer Vorstellungskraft lag, dass es Leute geben könnte, die noch in herkömmlichen Büros arbeiteten, mit vollem finanziellen Einsatz einen eigenen Neuwagen kauften und diesen ganz alleine fuhren, oder die gar bei einem Reiseanbieter Ferienhäuser buchten.

Warum das Teilen auf dem Land nicht funktioniert

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Auch auf dem Land hatte ich die Möglichkeit, bei einem gemeinsamen Gartenprojekt mitzumachen. Geleitet wurde das Projekt von der Gemeinde. Wir bauten Hochbeete, versetzten Sträucher, pinselten einen Bauwagen an.

Aber ich habe mein Beet wieder abgegeben. Der Grund: Ich habe zu Hause eigene Beete, und einen Riesen-Balkon, und unzählige Fensterbretter mit Pflanzen. Da bleibt für das gemeinsame Unkrautjäten und Grillwurst wenden in sieben Kilometer Entfernung keine Zeit. So banal das klingt.

Unsere große Wohnung ist ein Geschenk. Es entschleunigt, nicht in Auto, Bus oder Bahn steigen zu müssen, um andere Menschen treffen zu müssen, mit denen man dann etwas nur teilt.

Aber so eine Wohnung mit viel Abstellfläche, Balkon und Garten verpflichtet. Und so jäte ich meigenes, ganz persönliches Unkraut jetzt eben alleine. Mache einen Schritt in meine Küche, die ganz genau so aufgeräumt oder nicht ist, wie ich es will, mache mir einen Kaffee und trinke ihn – alleine. Die Tomatenernte sieht gut aus dieses Jahr. Wie in allen anderen Gärten auch. Wir müssen uns gar nicht gegenseitig mit Tomaten beschenken. Jeder hat welche.

Wie begeben uns auch nicht mehr so in Abhängigkeiten. Wir fühlen uns nicht mehr verpflichtet, unser Auto oder unsere Zeit, unser Sofa oder Geld gar zur Verfügung zu stellen. Wir erwarten nicht mehr, dass das Telefon klingelt mit der Frage „Kann ein befreundeter Musiker heute Nacht bei euch schlafen?“ oder „Kann ich mal mein Baby zu dir bringen, ich muss kurz einkaufen gehen?“ oder „Mein Konto ist leer, aber ich muss dieses Ticket kaufen, hast du mal 200 Euro?“. Im Gegenzug erwarten wir von den anderen auch nichts. Das macht frei.

Ich habe jetzt einfach mehr Zeit. Für mich (Me-time). Für meinen Garten. Für meine Kinder. Die mich schon lange nicht mehr fragen: „Können wir mal wieder… mit Freunden spielen, zum Spielplatz, in ein Café, ein Eis, zu einem Konzert???“ Sie wissen es jetzt besser. Sie haben sich. Ihre Zimmer. Ihr Spielzeug. Ihr Grundstück. Uneingezäunt, aber mit einer imaginären Grenze. Das, was dahinter liegt, wird Tag für Tag irrelevanter.

Bis ich schon gar nicht mehr weiß, wo ich eigentlich bin und welches Jahr oder Jahrzehnt wir gerade haben. Es ist mir ehrlich gesagt auch egal. Mir fehlt ja nichts. Meine Kinder, meine Hausgeräte, mein Geschirr, mein Essen und meine Müllmarken, mein Beet, mein Auto, meine Werkstattrechnung, mein Leben. Ich kann mich nicht erinnern, aber wahrscheinlich wollte ich es so.

In der Stadt geht man auf die Straße, und es ist sofort was los

Ich hatte neulich ein langes Gespräch mit einem Bekannten. Unsere Kinder tobten herum, wir saßen zusammen im Eigenheim des Bekannten mit ganzer Familie, bei Advent, Kaffee und Keksen. Ich sagte: „Ich will viel lieber in der Stadt leben. In der Stadt geht man auf die Straße, und es ist sofort was los.“

Der Bekannte: „Gottseidank wohnen wir auf dem Land. Hier ist es so ruhig. Die Luft ist so frisch. Ich könnte nie woanders wohnen. Warum willst du dir und vor allem deinen Kindern den Lärm der Stadt geben?“

Ich: „Da gibt es Spielplätze, wo sie immer alle Freunde treffen, ohne dass man sich verabreden muss. Auf dem Weg dorthin kaufen sie sich selbstständig was beim Bäcker. Sie wissen, wieviel was kostet. Sie wissen genau, wann die Bahn fährt und dass sie beim Überqueren der Straße nach links und rechts schauen müssen. Und ich kann sie zur Not jederzeit auf ihrem Smartphone erreichen.“

Der Bekannte: „Naja. Auf dem Land kann ich mein Kind jederzeit auf dem Fahrrad durchs Dorf fahren lassen, ohne mir die geringsten Sorgen machen zu müssen. Alle die hier wohnen, kennen meinen Sohn und werden auf ihn achten. Ich kann jederzeit fragen: Hast du meinen Sohn vorbeifahren sehen? Da braucht der kein Smartphone.“

Ich: „Okay, jetzt sind sie noch klein und es reicht ihnen, ab und zu eine Runde durchs Dorf zu drehen. Aber wenn sie älter werden und regelmäßig in die Kreisstadt fahren, sind sie ganz schön allein unterwegs. Wenn deine Tochter abends irgendwo als einzige auf die S-Bahn wartet, passt keiner auf sie auf. Ab 18 Uhr sind doch in dem gottverlassenen Nest, das sich Kreisstadt schimpft, die Bürgersteige hochgeklappt. Denk an die Drogenclique am Bahnhof. Da laufen selbst Achtzehnjährige zu Zweit nicht gerne dran vorbei. Ein Mädchen aus unserem Dorf wollte in den letzten Bus einsteigen. Sie war ganz alleine. Fünf Typen haben sie am Einsteigen gehindert. Da schlafe ich doch ruhiger, wenn ich weiß, meine Tochter steht auch noch nachts um zwei immer zusammen mit einer großen Schar Gleichaltriger, Studenten, Pärchen und Touristen an der Bushaltestelle.“

Der Bekannte: „Meine Kinder machen so schnell wie möglich ihren Führerschein! Und bis dahin fahre ich sie. Aber jetzt im Ernst, ich lasse die doch nicht nachts – und auch tagsüber – nicht sinnlos durch die Straßen ziehen. Das fängt in der Stadt ja schon im Grundschulalter an. Und ständig dieses Shoppengehenmüssen und immer neuestes Iphone und – igitt – Hotpants. In der Stadt passieren so viele Vergewaltigungen und Morde.“

Ich: „Ja, aber denk mal an die Partygänger, die in der Kurve der Bundesstraße verunglücken. Das passiert hier doch dauernd. Party, Alkohol im Nachbardorf. Und dein Kind sitzt da vielleicht auf dem Beifahrersitz, weil ihm das in dem Moment sicherer erscheint, als eine Stunde lang einsam auf die letzte S-Bahn zu warten. Sowas passiert in einer Stadt mit Bussen, Bahnen und Taxis, die auch nachts getaktet fahren, definitiv nicht!“

Der Bekannte: „In der Stadt passieren so viele Unfälle, und so viele Überfälle und so viele Vergewaltigungen, alleine schon weil dort so viele Autos fahren. Weil dort so viele Menschen leben, die ich nicht kennen kann – und im Übrigen auch niemals kennenlernen möchte. Hier im Dorf laufe ich los und kenne jeden, dem ich auf meinem Weg begegne. Ich laufe zu meinem Stammtisch oder zu einer Vereinssitzung, oder mit den Kindern zum Laternenfest. Auch dort kenne ich jeden – ich war mit jedem einzelnen von denen ja schon im Kindergarten! Aber in der Stadt: Da laufen mir ständig Asis, Arbeitslose, Ausländer undsoweiter über den Weg. Da gibt es Viertel, in die geht man aus guten Grund nicht. No go areas.“

Ich: „Ich will ja gerade, dass meine Kinder sich mit vielen unterschiedlichen Leuten auseinandersetzen. Ich will nicht, dass sie denken, die Welt besteht nur aus heilen weißen deutschen Familien, Vatermutterundzweikinder, alle sind Christen, alle haben ein Haus, eine Großmutter, zwei Autos und ein Trampolin.“

Der Bekannte: „Haha, naja, haut hier ungefähr hin.“

Ich: „Wie sollen unsere Kinder hier im Dorf denn einen Bezug zu der Welt kriegen, in der wir leben? Sie sollen sehen, dass jeder Mensch anders ist. Dass man unterschiedliche Sprachen sprechen und sich trotzdem verstehen kann. Sie sollen einschätzen können, warum jemand wie auf sie reagiert. Warum jemand eine andere Meinung hat als sie selbst und was sie darauf erwidern sollten. Und was sie in unangenehmen Situationen unternehmen sollten. Schlagfertigkeit. Toleranz. Überlebenstaktik. Kulturelle Kompetenz. Alles, was sie hier eben nicht lernen können.“

Der Bekannte: „Aha. Dann möchtest du wohl auch, dass deine Tochter mit Schlägern, Asis und sonstigen Kindern aus total kaputten Elternhäusern in eine Klasse geht? Ich weiß, wovon ich rede. Ich bin selbst in einer Stadt zur Grundschule gegangen. Das soziale Klima dort war übelst. Das hat mich völlig runtergezogen. Oder nimm zum Beispiel Berlin. Die Brennpunktschulen.“

Ich: „Natürlich will ich nicht, dass meine Kinder runtergezogen werden! Aber wenn man das nicht möchte, hat man in der Stadt immer eine Wahl. Ich kann in einer größeren Stadt wählen zwischen alleine  – sagen wir – zehn privaten Grundschulen in nächster Nähe. Von weiterführenden Schulen ganz zu schweigen.“

Der Bekannte: „Jetzt pass mal auf. Du möchtest also doch in deiner eigenen heilen Welt leben und nur Leute treffen, die zu dir passen? Das hast du doch hier auf dem Land gratis. Die Eltern in den Städten, die können kein Auge zutun und machen sich total verrückt. Anstatt ihr Kind in die Schule um die Ecke laufen zu lassen, stehen sie jeden Morgen eine Stunde früher auf und fahren ihr Kind ums Verrecken mit dem SUV ans andere Ende der Stadt, wo es mit lauter fremden Kindern in eine elitäre Schule gehen muss. Und dann werden die Kinder auch noch viel früher eingeschult, und sind schon ab dem Alter von 5 Jahren im Ganztag. Wann kommen die nach Hause? Vielleicht um 4 oder halb 5. Wann wollen die noch was mit ihren Freunden ausmachen? Wann spielen die mal? Wann sind die mal einfach nur Kinder?“

Ich: „Klar liebe ich die Freiheiten der Kinder auf dem Land sehr! Meistens sind sie um 13 oder 14 Uhr zu Hause. Dann haben sie noch stundenlang Zeit für ihre Hobbys. Stromern herum, helfen in der Werkstatt, kümmern sich um ihre Kaninchen oder haben eigene Pferde, und egal ob sie lieber Fußball spielen, in die Jugendfeuerwehr oder in eine kirchliche Jugendgruppe vor Ort gehen – diese Angebote werden immer von einem Nachbarn oder einem Verwandten geleitet, sodass man auch in diesen Kreisen absolut nicht um sein Kind fürchten muss.“

Der Bekannte: „Sag ich ja.“

Ich: „Was ist aber, wenn dein Kind noch für etwas anderes als Fußball, Feuerwehr und CVJM geschaffen ist? Wenn es gerne eine bestimmte Tanzsportart machen will, oder Kunst, oder klassischen Gesang, oder das Zeug hätte, Theater oder Debattieren auf hohem Niveau zu machen? Oder wenn es bestimmte Noten hat oder Interessen und Kenntnisse, die kein anderer teilt, besondere Verhaltensweisen vielleicht, oder eine Behinderung. Weder für Überflieger noch für, ich sag mal, Orientierungslose gibt es hier kompetente Angebote. Man muss für Angebote, die jenseits des Üblichen liegen, schon durch den ganzen Landkreis fahren. Und dann ist man für ein einstündiges Angebot den ganzen Nachmittag auf der Straße. Dasselbe gilt übrigens auch für Arztbesuche. Vor allem bei Spezialisten.“

Der Bekannte: „Spezialisten! Völlig überbewertet. Ich lobe mir unseren Dorfarzt. Einmal hat mir am Samstagnachmittag plötzlich das Kreuz wehgetan. Ich konnte mich nicht mehr bewegen. An einem Samstagnachmittag! Aber ich hab ja von unserem Arzt die Privatnummer. Hab ich angerufen, er kam vorbei, einfach so, hat mich wieder eingerenkt. Da brauch ich keinen Spezialisten.“

Ich: „Ich freue mich über diesen Erfolg, und ich mag unseren Arzt auch. Aber denk an deine Cousine. Zweimal drohte bei ihr eine Frühgeburt. Einmal musste sie deshalb mit dem Taxi bis nach T. fahren. Und beim zweiten Mal musste ein Helikopter sie nach B. bringen. Und jetzt stell dir vor, du kommst nicht mehr aus dem Haus. Du bist alt geworden. Oder du bist – vielleicht auch schon jung – in Rente gegangen wegen eines Unfalls. Oder du bist depressiv. Du kannst dich nicht mehr fortbewegen. Du kannst keine eigenen Entscheidungen mehr treffen. Du darfst nicht mehr Auto fahren. Solche Sachen. Das renkt kein Dorfarzt wieder ein. Da bist du hier doch völlig aufgeschmissen.“

Der Bekannte: „Wenn ich einmal alt und unbeweglich bin, dann sind meine Kinder für mich da. So, wie meine Frau und ich sich jetzt schon um meine Mutter und auch meine Großmutter kümmern, mit denen wir zusammen auf demselben Grundstück leben.“

Ich: „Beneidenswert. Aber ich muss schon nachhaken: Woher nimmst du diese Sicherheit? Die allermeisten jungen Leute ziehen hier weg und in die Städte. Das kann man in jeder Statistik nachlesen. Das machen deine Tochter und dein Sohn eines Tages auch. Und ob die ihren alten Vater dann hunderte Kilometer weit weg, weit weit draußen im Wald besuchen wollen oder nicht, das entscheiden die selber!“

Der Bekannte: „Was sollten meine Tochter und mein Sohn denn später in einer Stadt wollen? Warum, bitteschön, sollten die weit weg von hier ziehen wollen?“

Ich: „Wegen der Arbeit natürlich. Ausbildung und dann arbeiten. Klar kann man hier solide Berufe erlernen und man findet in einigen Branchen auf gute Jobs. Aber die allermeisten Fachrichtungen und auch Berufszweige fehlen hier.“

Der Bekannte: „Also. Meine Kinder gehen wahrscheinlich mal auf die Realschule oder auf die Werkrealschule. Von mir aus können sie auch aufs Gymnasium. Aber in jedem Fall werden sie im Anschluss einen Beruf erlernen, den man hier in der Region gebrauchen kann. Es gibt sehr viele Möglichkeiten. Viele der Firmen bilden aus. Es kennt immer jemand jemanden, der einen Azubi braucht. Ob die dann mal als Gehilfe oder als Meister arbeiten, ob mit oder ohne Diplom, ob als Angestellter oder in ihrer eigenen Firma – egal. Hier ist alles möglich.“

Ich: „Du hast recht. Unsere Region hat einige Weltmarktführer. Hidden champions. Lehrer, Pfarrer und Bankangestellte werden händeringend gesucht. Und auch sonst, im Straßenbau, in der Forstwirtschaft: Es gibt immer was zu tun!“

Der Bekannte: „Richtig. Und weißt du, was das Gute daran ist? Wenn die Firma, in der ich arbeite, pleite geht, habe ich am nächsten Tag sofort einen neuen Job! Wer schaffen kann, der findet hier immer was.“

Ich: „Naja. Das trifft auf deine Branche vielleicht zu. Aber schau mal deine Schwägerin an. Die hat nach ihrer Ausbildung zur Erzieherin nicht ihren Traumberuf in einem Kindergarten gefunden. Und warum nicht? Es gibt einfach zu wenig nachwachsende Familien. Ich erinnere: Erst hat fast unser Kindergarten geschlossen, dann hat unsere Grundschule dichtgemacht, nachdem es nur noch 20 Schüler gab. Es gibt einen starken Geburtenknick. Weil die Erwachsenen unserer Generation alle weggezogen sind. Wir sind vor dreieinhalb Jahren hierher gezogen. Seither gab es hier zwar die eine oder andere Hochzeit, den ein oder anderen Häuslebau und den ein oder anderen Nachwuchs in der Nachbarschaft. Aber: nach uns ist keine einzige andere Familie mit Kindern von weiter weg mehr hierhergezogen. Wir waren die letzten. Das muss doch einen Grund haben.“

Der Bekannte: „Das mit dem Geburtenknick liegt doch daran, dass keiner mehr Kinder bekommen will. Das ist die Emanzipation, die sich auch hier ausgebreitet hat. Welche Frau will denn heute noch mehr als zwei, drei Kinder bekommen? Dazu sind doch alle zu bequem geworden. Aber gleichzeitig wollen alle Mädchen nach der Realschule Erzieherin werden. Da frage ich mich, warum. Als ob es keinen anderen Beruf für Frauen gäbe als Erzieherin im Kindergarten. Klar muss man dann auch mal Kompromisse machen.“

Ich: „Tatsache bleibt: Es gibt viele Berufe, die auf dem Land nicht oder nicht mehr so sehr benötigt werden, und für die man weit pendeln müsste. In der Stadt ist hingegen alles möglich. Es gibt jeden nur erdenklichen Studiengang, es gibt dort jede Art von Job, man kann seine Nische finden. Man kann was werden, was auch sich machen. Man kann auch versuchen, aus seinem Hobby etwas zu machen. Auch in Branchen, die uns beiden völlig unbekannt sind. Man hat auch die Freiheit, zeitweise mal wenig verdienen, prekär zu leben. Denn in der Stadt kannst du dein Leben unbeobachtet von den lieben Nachbarn und  ungeachtet der Kritik deiner lieben Verwandten so führen, wie du es möchtest. Oder wie du denkst, dass es gerade angesagt ist.“

Der Bekannnte: „Wie nett, die vielgerühmte Anonymität der Großstadt! Jedem Trend hinterherrennen. Und nicht arbeiten wollen. Das fängt bei denen doch schon im Studium an.  Ich will mal einen von diesen Langzeitstudenten sehen, dem ich – nur zum Beispiel – ein Brett in die Hand gebe und ihm sage: Zersäg das mal in der Mitte. Das würden die im Leben nicht hinbekommen! Ich will nicht, dass meine Kinder so enden. Das wäre für mich das Traurigste, wenn meine Kinder sich totstudieren und ihr Leben vergeuden und zwielichtige Freunde haben. Und nur noch dann anrufen, wenn sie Geld brauchen. Die sollen lieber hier auf dem Land bleiben und was werden.“

Ich: „Ich habe lange studiert. Zugegeben, heute würde ich wahrscheinlich ein anderes Fach studieren als Literaturwissenschaft. Aber ich habe in dieser Zeit einiges über mich gelernt. Unter anderem, dass ich mich nicht für immer an eine einzige Firma, einen einzigen Hof, einen einzigen Landstrich binden will… naja, ich sagte ja, ich will viel lieber in der Stadt leben. In der Stadt geht man auf die Straße, und es ist sofort was los.“

Was man auf dem Land alles machen kann

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Wir haben beim Spaziergang eine Baggerschaufel gefunden und spielen jetzt erstmal eine Viertelstunde lang darin.

Was kann man auf dem Land machen? Was kann man mit Kindern auf dem Land machen? Wie ihr seht, wird es hier uns kein bisschen langweilig (okay, meistens)!

Auf dem Land kann ich…

  • …meine eigenen vier bis sechs Kinder plus fünf Besuchskinder auf der Ladefläche eines Unimog herumkutschieren.
  • …für die 20 Schulkinder einen Doppeldecker-Reisebus für 150 Personen inkl. Videoleinwand und Espressomaschine  einsetzen (weil gerade kein Bus in angemessener Größe vorhanden ist).
  • …mangels Spielplätze einen eigenen bauen mit drei Rutschen und acht Schaukeln. Und zwei Baumhäusern, die die Kinder selber dazubauen.
  • …mein Auto hochbocken, drunterkriechen und feststellen, dass man das auch alles ohne Werkstatt machen kann.
  • …nach Feierabend meine Pferde von der Koppel holen, nach den Bienen sehen und mir einen selbstgebrannten Apfelschnaps genehmigen.
  • …bei jedem leisen Schneefall zwei Stunden Grundstück freischippen.
  • …den Kindern ein Legozimmer, ein Playmobilzimmer, einen Turnraum und ein Musikzimmer zur Verfügung stellen.
  • …für die Kinder ein Zelt aufbauen und einen Wasserspielplatz, alles Lego und Duplo ausleeren und aufbauen, fremde Gäste beherbergen, und das alles gleichzeitig und ohne sich dabei auf die Zehen zu treten.
  • …im Sommer auf dem Heuboden schlafen. Oder im Garten. Oder im Wald.
  • … meine Kinder endlos draußen spielen lassen, während langsam Mond und Sterne aufgehen.
  • …zusehen, wie meine Kinder den Nachmittag mit einem Fußballmatch beginnen, dann doch lieber eine Wasserschlacht machen, dann eine Fahrradtour, dann eine Unterholz-Expedition, um danach in der Werkstatt abzuhängen und was zusammenzuhämmern.
  • …meine Kinder zur Tagesmutter bringen, danach in den Wald fahren und als einziger Mensch weit und breit um 9 Uhr früh Langlaufski fahren.
  • …bei schlechtem Wetter vergeblich nach Indoorspielplätzen, Kletterhallen, Cafés mit WLAN und Kinderspielecke googlen, abwinken und die Kinder vor den Laptop setzen.
  • … nach Monaten, in denen kulturell, kunst-, konzert- café- und partymäßig nichts, aber auch gar nichts passiert ist (außer vielleicht ein paar Schülerkonzerten), abwinken und mich vor den Laptop setzen.

Stillen im Café oder: Hipster 2.0

Neulich bin ich in meinem derzeitigen Lieblingscafé gewesen und es ist noch mehr zu meinem Lieblingscafé geworden.

Aber der Reihe nach.

Wir, die Eltern, atmen gerade ein wenig arbeitsfreiere Luft. Wir gehen jetzt manchmal mitten in der Woche schwimmen. Oder wir setzen uns früh um halb 9 ins unser Lieblingscafé mitten im Dorfkern, oder heißt das politisch korrekter Ortskern. Wir sind um diese Uhrzeit die einzigen. Alle anderen schaffen, ob auf der Arbeit oder in Haus und Hof. Und alle jungen Mütter, die mit Baby unterwegs sind, scheinen lieber spazierenzugehen.

Wir stellen unseren Fahrradanhänger mit Baby drin in den Schatten und bestellen frisch gebackene Dinkelbrötchen, selbst gemachte Brombeermarmelade und ein frisches Stück Marmorkuchen (die Rezepte gibt’s hier). Das Mehl wird vor Ort gemahlen. Neben unserem Platz an der Sonne rauscht das Wasser für den Mühlenantrieb. Die Limonade, verfügbar in allen schrägen Geschmacksrichtungen, auch Cola, wird ganz lokal im Nachbartal hergestellt.

Unsere Hipsterherzen sind also befriedigt und wir finden alles schon genauso gut wie in der Stadt. Aber dann finden wir es hier auf einmal noch viel besser!

Das liegt daran, dass die Bedienung, eine Großmutter mit Brille, Charme und Schürze, von unserem Baby wie magisch angezogen ist. Zusammen mit ihrer Kollegin versucht sie, das Alter des Babys zu erraten und liegt gleich richtig. Als das Baby gestillt wird, erhalten wir ein strahlendes Lächeln: „Die Kleine muss ja auch satt werden!“. Und selbstverständlich passen beide Servicekräfte auch mal kurz auf das Baby im Anhänger auf, während die Eltern weg sind, und halten es solange bei bester Laune.

Das muss das neue hipster sein.

Schöne Landschaften machen mich glücklich – mir fehlt hier allerdings ein guter Indie-Schuppen

Interview mit einem Land-Blogger 

Wer sind sie: die “Stadteier”, deren Zeit in der Stadt irgendwann abgelaufen war? Die auf dem Land erst so richtig Beruf und Berufung fanden? Die noch immer nach etwas suchen, was sie vielleicht nur in der Stadt finden können? Die auf dem Land endlich ihren Sehnsüchten Raum verschaffen konnten? Die Kompromisse eingingen und dabei erwachsen wurden?

Landfamilie fragt, gestandene Land-Blogger antworten.

Teil III: Plötzlich Pfarrerin.

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Wie lange ist es her, dass du das Land– gegen das Stadtleben getauscht hast und warum das Ganze?

Ein Jahr und zwei Monate. Ich bin Pfarrerin im Probedienst und dafür wird man auch auf Stellen „entsandt“, die im ländlichen Raum liegen. Viele haben Angst vor dem Pfarramt auf dem Land und ich hatte auch Schiss, vor allem davor, auf einmal alleine verantwortlich für alles zu  sein. Ich wollte aber auch wissen, ob ich das hinkriege oder nicht – deshalb bin ich hier.

Du kommst abends mit dem Auto oder mit dem Zug in dein Dorf zurück. Woran merkst du, dass du „nach Hause“ kommst?

Die Kompostkatze huscht auf das Nachbargrundstück und der feine Duft von Marderkacke steigt mir in die Nase. Wenn ich über die Hintertür ins Haus will, muss ich an einem kleinen, wieder sehr verwildertem Stück Garten vorbei, das meine Schwiegermutter in spe im Sommer hübsch gemacht hat. Nach Hause kommen heißt für mich auch die wiederkehrende Erkenntnis: ich sollte dringend mal was im Garten machen. Und Lagerfeuer gegen den ganzen Pappmüll von der letzten Ikea-Bestellung.

Was sagen deine Kinder / dein Partner über das Landleben? Kannst du diese Meinung teilen?

Meinen Partner zieht es zurück in die Großstadt. Ich kann ihn verstehen, brauche den Trubel einer Metropole für mich aber eher weniger.  Ich mag es, ein Haus und den Garten zu haben und hätte gerne mehr Zeit, beides zu genießen. Im Sommer ist es bei mir in der Gegend mit den ganzen Seen einfach wundervoll. Unlängst habe ich entdeckt, dass schöne Landschaften mich glücklich machen – vielleicht ein Zeichen des einsetzenden Alterungsprozesses?

Ein Blick zurück: Vermisst du etwas, das es nur in der Stadt gibt? Oder hast du aufgehört, etwas zu vermissen? Warum?

In der Stadt war ich viel aktiver bei Instagram, Eye Em und Twitter – das hat stark nachgelassen, weil ich nicht mehr mit den Öffentlichen unterwegs bin (die gibt es hier einfach nicht). Die Anonymität der Großstadt fehlt mir manchmal – hier kennen mich alle. Vor dem ersten Kaffee ist das unangenehm. Ich vermisse weniger die Stadt als mein studentisches Leben in der Stadt. Mir fehlt hier allerdings ein guter Indie-Schuppen, aber die werden auch in den großen Städten weniger, vielleicht auch ein Zeichen des Alterungsprozesses.

Ein Blick in die Zukunft: Lebst du auch noch im Alter auf dem Land? Warum / warum nicht?

Hm – wenn Land mit Haus und riesen Garten und Alleinsein zu tun hat, dann eher nicht, dafür bin ich zu faul. Aber wenn Land heißt, zusammen mit anderen vielleicht endlich die Kommune auf dem Land gründen, dann ja. Und wenn ich mein Gärtnerinnen-Ich in der Zwischenzeit wiederfinde.

Zur Person: Plötzlich Pfarrerin will anonym bleiben. Ihr gutes Recht. Aus dieser Anonymität heraus informiert sie uns hoffentlich weiterhin so glasklar und ironisch über ihr Vorantasten im neuen Job. Wie vom Vorhaben, mit Hilfe ihrer Gemeinde das Rauchen aufzugeben, über die Weitläufigkeit ihres Bezirks aka Das große, waldige Gemeindewesen oder das noch schnell gemeinsam essen gehen nach dem Gottesdienst. Aber auch alle anderen Beiträge der Pfarrerin sind höchst amüsant. Unbedingte Leseempfehlung!

Warum ich das Landleben der Stadt vorziehe: Weniger Konsum und Reizüberflutung

Interview mit einem Land-Blogger 

Wer sind sie: die “Stadteier”, deren Zeit in der Stadt irgendwann abgelaufen war? Die auf dem Land erst so richtig Beruf und Berufung fanden? Die noch immer nach etwas suchen, was sie vielleicht nur in der Stadt finden können? Die auf dem Land endlich ihren Sehnsüchten Raum verschaffen konnten? Die Kompromisse eingingen und dabei erwachsen wurden?

Landfamilie fragt, gestandene Land-Blogger antworten.

Teil II: Verena vom Blog Mami Rocks.

by_Verena Wagner_mamirocks

So oder so ähnlich sieht es für Verena aus, wenn sie nach Hause fährt.

Wie lange ist es her, dass du das Land- gegen das Stadtleben getauscht hast und warum das Ganze?

Wir sind 2009 zur Geburt unseres ersten Kindes aufs Land gezogen. Unsere erste Wohnung lag auf 1.100 m inmitten von Bergwiesen und Steilhängen im Außerfern, einer Tiroler Gegend deren Name wirklich Programm ist. Diesen Platz haben wir schon gefunden bevor ich schwanger war. Wir pendelten gut ein Jahr zwischen Stadt und Land. In dieser Zeit wurde uns klar, dass wir unsere Kinder auf dem Land aufwachsen lassen wollten. Wir haben beide unsere eigene Kindheit in kleinen Dörfern verbracht – vielleicht liegt es daran.

Du kommst abends mit dem Auto oder mit dem Zug in dein Dorf zurück. Woran merkst du, dass du „nach Hause“ kommst?

An den Bergen! Wenn ich aus dem Zugfenster blicke, und die Alpen plötzlich wieder majestätisch und präsent sind, weiß ich, warum ich hier wohne. Ich verspüre ein richtiges Glücksgefühl, wenn ich nach einer Stadtwoche in München wieder heimkomme. Warum ich aber Städte auch nicht missen möchte, könnt ihr in dem Artikel Stadtkind nachlesen. Aufgrund meiner Jugendzeit in Rom habe ich mich eigentlich immer ans Meer gewünscht und es hat mich anfangs sehr verwundert, dass ich so eine Liebe zum Gebirge aufgebaut habe. Aber vielleicht ist es einfach die natürliche Umgebung, die mir so gut tut, egal ob Meer oder Fels und Wald.

Was sagen deine Kinder / dein Partner über das Landleben?

Es war unsere gemeinsame, bewusste Entscheidung. Die Kinder kennen kein anderes Leben. Manchmal machen wir Urlaub in der Stadt, z.B. in München und diesen Sommer in Wien, und das finden unsere Landeier dann immer großartig. Sie würden den ganzen Tag nur U-Bahn, Tram und Rolltreppe fahren, wenn man sie ließe. Außerdem scheinen sie der Meinung zu sein, ich müsse bei jedem Geschäft etwas kaufen. Ein weiterer Punkt, warum ich das Landleben der Stadt vorziehe: weniger Konsum und Reizüberflutung.

Kannst du diese Meinung teilen?

Ja, voll und ganz. Wenn ich mich nach Stadtluft sehne, organisiere ich mir eine One-Woman-Show, fahre ins Büro, treffe Freunde, gehe essen, tanzen und tue ganz alleine wonach mir der Sinn steht.

Ein Blick zurück: Vermisst du etwas, das es nur in der Stadt gibt? Oder hast du aufgehört, etwas zu vermissen? Warum?

An Städten mag ich besonders ihre Subkultur. Städte sind im Werden begriffen. Es entsteht ständig neues, es liegt Veränderung und Kreativität in der Luft. Die Menschen sind offen, aufgeschlossen und oft ein bisschen experimentierfreudiger, ja verrückter als auf dem Land. Es tut mir gut, mir ein Fahrrad zu schnappen und quer durch den Münchner Sommer zu radeln und das alles aufzusaugen.

Ebenso liebe ich es, neue Städte zu entdecken (Berlin ich komme – hoffentlich allein im Mai zur Blogfamilia!) oder an Plätze zu reisen, an denen ich lange nicht war, wie letzten Sommer in Wien, als mich eine hochschwangere Freundin für eine Reportage von einem pulsierenden Hotspot zum nächsten chauffiert hat. Meine absoluten Lieblingsstädte, die ich sehr vermisse heißen Rom, Lissabon, Barcelona, Hamburg und London.

Immer wenn ich mit den Kindern zusammen bin und mir vorstelle wie es wäre mit ihnen in einer dieser Metropolen zu leben, vermisse ich gar nichts.

Ein Blick in die Zukunft: Lebst du auch noch im Alter auf dem Land? Warum / warum nicht?

Keine Ahnung. Mir gefällt es gerade, wo ich bin und da wir in den letzten Jahren sehr oft umgezogen sind, bis wir den idealen Paltz gefunden haben, möchte ich hier auch ganz lange bleiben. Aber das Leben ist Veränderung und wer weiß, wo es mich noch hinverschlägt? Ich hätte demjenigen auch einen Vogel gezeigt, der mir vor 10 Jahren erzählt hätte, dass ich mal in Tirol leben würde.

Zur Person: Verena betreibt (zusammen mit Maia) aus ihrer Tiroler Isolation heraus den kosmopolitischen Blog Mami Rocks. Hauptberuflich schreibt Verena für Reise-, Genuss-, Hotel- und Gastronomiemagazine. Business, Travel, Yoga, Food, Fun sind auch die Hauptüberschriften in ihrem Blog – und ja, das sind Kategorien, die man eher in urbanen als in ländlichen Gegenden vermutet.
So kann man sich auf Mami Rocks ganz exquisit über touristische Haupt- und Nebenschauplätze in Städten wie Rom, Lissabon, Wien und München informieren (an dieser Stelle muss ich als Ein-Bisschen-Bayerin Verenas Artikel Münchner Momente empfehlen).
Doch in Verenas Brust schlagen, ach, zwei Herzen. Und so kehrt sie nach ihren beruflichen und kulturellen Eskapaden in diversen Großstädten immer mit doppelter Motivation den Rückweg in die Tiroler Bergwelt an, wo seit sieben Jahren ihre Familie (3 Kinder) und mittlerweile noch so vieles andere beheimatet ist.
Toll sind die Momente, in denen Verena uns an ihren Ideen rund ums Familienleben teilnehmen lässt. Zum Beispiel beim Einkaufen mit Kindern, beim Wandern mit Kindern und Essen gehen mit Kindern, und, natürlich, beim Skifahren mit Kindern (aka: runter kommen die Kleinen immer. Wie aber rauf?).
Ich freue mich, Verena bald in Nürnberg auf der Eltern-Blogger-Konferenz denkst zu treffen!

„Vielleicht stelle ich mir dann eine Bank vors Haus und unter der Bank liegt ein alter Hund und schnarcht, und auf dem Schoß eine dicke verfilzte Katze.“

Interview mit einem Land-Blogger 

Wer sind sie: die „Stadteier“, deren Zeit in der Stadt irgendwann abgelaufen war? Die auf dem Land erst so richtig Beruf und Berufung fanden? Die noch immer nach etwas suchen, was sie vielleicht nur in der Stadt finden können? Die auf dem Land endlich ihren Sehnsüchten Raum verschaffen konnten? Die Kompromisse eingingen und dabei erwachsen wurden?

Landfamilie fragt, gestandene Land-Blogger antworten.

Teil I: Die Odenwälderin vom Landlebenblog.

Bank vor dem Haus

Wie lange ist es her, dass du das Land- gegen das Stadtleben getauscht haben und warum das Ganze?

Ich lebe jetzt seit satten 15 Jahren auf dem Dorf, aber ich habe mich ursprünglich langsam herangetastet. Von wegen drohendem Kulturschock undsoweiter. Von Berlin über Heidelberg, Mannheim und Ludwigshafen, dann in den tiefsten Odenwald, aufs Dorf mit 360 Einwohnern, nach dem Motto: wenn schon, denn schon. Ich kannte weder das besagte Dorf, noch den Odenwald, aber mein Chef suchte händeringend –  und bis dato vergeblich –  jemanden, der in die Provinz zieht, um von dort als Provinzreporter für den SWR und die gesamte ARD zu berichten. Und weil ich ohnehin aus dem herkömmlichen Karriere-Karussell aussteigen wollte, nahm ich den Job. Zum Entsetzen aller städtischen Freunde. Die sind inzwischen aber in der Mehrzahl neidisch.

Du kommst abends mit dem Auto oder mit dem Zug in dein Dorf zurück. Woran merkst du, dass du „nach Hause“ kommst?

Mit dem Zug?? Mit was für einem Zug? Ohne Auto geht hier nichts. Aber wenn die Straßen immer schmaler, immer schlechter und immer leerer werden, der Wald immer dichter und die Aussichten bis an den Horizont immer schöner, dann weiß ich, daß mein Dorf nicht mehr weit sein kann. Und daß zuhause der Gatte in der Küche steht, die Hühner auf der Stange sitzen, die Hunde sich freuen, die Katze schnurrt und im Kamin ein Feuer brennt. Das fühlt sich fast ein bißchen wie zuhause an.

Was sagen deine Kinder / dein Partner über das Landleben? Kannst du diese Meinung teilen?

Der Gatte kennt und liebt das Landleben, 16 Jahre hat er einen Hof in Italien gehabt. Und da fangen aber leider die Probleme an. Das Wetter in Badisch-Sibirien ist mit dem in der Emilia nicht so recht vergleichbar, wir haben hier im Odenwald sechs Monate Eis und Schnee, und den Rest des Jahres isses kalt. Für den Gatten ein gewisser Alptraum, aber er trägt es mit Fassung. Ich habe ihm versprochen, daß wir wegziehen, wenn wir im Lotto gewinnen. Irgendwohin, wo es warm ist. Schließlich ist er ja nur meinetwegen hier.

Ein Blick zurück: Vermisst du etwas, das es nur in der Stadt gibt? Oder hast du aufgehört, etwas zu vermissen? Warum?

Ich vermisse den Griechen in den U-Bahnbögen am Savignyplatz. Ob es den noch gibt? Und ich vermisse nette Cafes und kleine Bars, aber ich versuche, es nicht zu vermissen, es hilft ja nichts. Die kulinarische Infrastruktur, überhaupt eine gewisse Ess- und Trinkkultur muß man auf dem Land ja mit der Lupe suchen, hier muß man schaffe‘, nicht herumsitze‘ und faulenze‘ und genieße‘. Seufz.

Und ich vermisse Menschen, die mal sagen „Au ja, das klingt wie eine tolle Idee, das probieren wir!“ und nicht immer nur „Geht nicht, gibt’s nicht,  und am besten bleibt alles, wie es ist.“ Ich bilde mir ein, in der Stadt gäbe es solche Menschen, aber vielleicht irre ich mich auch.

Ein Blick in die Zukunft: Lebst du auch noch im Alter auf dem Land? Warum / warum nicht?

Puh, schwierige Frage. Das Leben wird mit fortschreitendem Alter auf dem Lande wohl nicht leichter. Keine Läden, kein Nahverkehr, immer weniger Ärzte. Aber will man als Rentner gerne in Berlin oder in Hamburg sein? Ich denke ungern über dieses Thema nach. Aber vielleicht werde ich auch so eine verschrobene Land-Alte, ich stelle mir dann eine Bank vors Haus und sitze in meiner Kittelschürze da und plaudere mit allen, die vorübergehen, und unter der Bank liegt ein alter Hund und schnarcht, und auf dem Schoß eine dicke verfilzte Katze, und es gibt jeden Tag Kartoffeln aus dem Garten und dazu Spiegeleier aus dem eigenen Stall. So könnte ich mir das vielleicht doch vorstellen.

Zur Person: Friederike Kroitzsch aka die Odenwälderin ist SWR-Journalistin in Nordbaden. Zum allerersten Mal ist sie mir Tatsache nicht im Internet, sondern in der Rhein-Neckar-Zeitung begegnet. Fast täglich schreibt sie auf ihrem Blog über die Gegenstände, Tiere und Menschen auf dem Land  und macht sehenswerte Fotos dazu. Ob ausgefallene Ausflugstipps, die angestaubte Gaststätte, die provinziale Kaffeehauskultur oder die Begegnung mit der Einsiedlerin: alles ein wenig skurril, alles liebenswert und mit großer Detailtreue und Warmherzigkeit geschildert. Ich hoffe, ich lerne die Landlebenbloggerin irgendwann mal in echt kennen. Das wäre toll.

 

Stadteier auf dem Land. Eine Umfrage unter Landbloggern

Ich will wissen, wer sie sind:

Die Stadteier, deren Zeit in der Stadt irgendwann abgelaufen war.

Die auf dem Land erst so richtig Beruf und Berufung fanden.

Die noch immer nach etwas suchen, was sie vielleicht nur in der Stadt finden können.

Die auf dem Land endlich ihren Sehnsüchten Raum verschaffen konnten.

Die Kompromisse eingingen und dabei erwachsen wurden.

Tag für Tag seit meinem Umzug vor 10 Monaten stelle ich mir viele Fragen. Fragen, die ich mir vielleicht gar nicht als erste stelle?  Die andere längst schon, und viel besser beantwortet haben als ich? Ich habe einen Blick in die Runde geworfen und bin dabei auf viele tolle Blogs gestoßen, die ich sehr gerne lese.

Und dann habe ich mir ein Herz gefasst und diese für mich einmaligen Co- Blogger um ein Interview gebeten. In den nächsten Tagen oder Wochen erwarten euch also einige Porträts von Bloggern, die aus der Stadt aufs Land gezogen sind. Den Anfang macht meine geliebte Odenwälderin vom Landlebenblog, die von Berlin in die tiefste baden-württembergische Provinz gezogen ist. Es folgt Verena von Mamirocks, die mit drei Kindern von München ins ländliche Tirol zog – und die ich sehr wahrscheinlich bald in Nürnberg auch wirklich kennenlernen werde. Schließlich Plötzlich Pfarrerin, die, man ahnt es, von Berufs wegen aus ihren städtischen Zusammenhängen gerissen wurde.

Vielleicht gesellen sich mit der Zeit noch ein weitere Stadteier dazu. Also: bald mehr! Hier!