Coronatagebuch Tag #85

Windstärke 0

Die Oberflächen, Fenster und Spiegel sind blank geputzt. Die Blumen haben frische Erde. Das Milchaufschäumgerät zischt laut durch den leeren Raum. Es duftet nach frischem Kaffee mit einer Note Desinfektionsmittel.

Man darf das Café wieder besuchen. Man darf sich eine Zeitschrift aus dem Zeitschriftenständer nehmen und diese am Platz lesen. Man darf am Platz auch den Mundschutz abnehmen.

Auf dem Weg dorthin sind wir Klebepfeilen am Fußboden gefolgt und haben insgesamt dreimal die Hände desinfiziert. (Die Kinder haben sich nicht daran gestört, sie hätten ihre Hände auch dreißigmal unter einen Spender gehalten.)

Jetzt sind wir drin, im fast leeren Café der Stadtbücherei. Die Kinder spiegeln die Ruhe und Leere der Umgebung wider. Sie erzählen der Bedienung entspannt, was sie gerne essen wollen. Die Brezel und das Croissant kommen fast sofort. Dazu zwei Gläser Kakao. Die Kinder staunen die randvollen Gläser an, als hätten sie zum ersten Mal Kakao serviert bekommen. Sie essen und trinken in heiligem Ernst. Danach blättern sie ganz ruhig in den Büchern, die sie ausgeliehen haben, betrachten die Bilder ohne was zu sagen oder sich zu streiten.

Danach nehmen wir sie mit in den Zuckerladen. Das ist ein dunkler, vollgestopfter kleiner Laden, der alle Süßigkeiten beherbergt, die man sich nur vorstellen kann, und noch viel mehr. Der Laden lebt von den Touristen und von der Atmosphäre, die entsteht, wenn ganz Gruppen sich in drinnen auf die Zehen treten und draußen trotzdem noch eine Schlange steht.

Das weiß jeder, der den Zuckerladen kennt. Noch nie habe ich die schillernden Besitzer, die eher so etwas wie Zirkusdirektoren als Ladeninhaber verkörpern, so ruhig, beinahe ratlos erlebt. Wir sind die einzigen im Laden, bis später noch zwei Leute dazukommen. Ein dritter muss draußen vor der Tür warten.

Eigenlich ist alles wieder wie vorher.

Nur ohne Leben.

Ich habe einen Antrag auf Notbetreuung im Kindergarten eingereicht. Dort sind aktuell nur 9 Kinder, es werden aber schnell mehr. Fun fact: die Kinder müssen alle untereinander den Abstand von 1,5 Metern einhalten. Kinder ab 1! Das entspricht (nach gründlicher Recherche) nicht den Empfehlungen und Verordnungen des Landes.

Der Bund verspricht allen Eltern ein zusätzliches Kindergeld von einmalig 300 Euro pro Kind.

Fast alle Länder Europas öffnen ihre Grenzen wieder. Noch zehn Tage.

Schwimmbäder öffnen demnächst überall in Baden-Württemberg wieder, nur nicht bei uns. Aber es gibt einen Lichtblick: Ein lokaler Schwimmverein bietet demnächst Trockenübungen auf einer Wiese an.

Der Mundschutz hat sich in meinem Hirn verselbstständigt. Wenn ich zwischen Apotheke, Bus, Bücherei und Café unterwegs bin, setze ich ihn zwischendurch kaum noch ab, weil ich vergessen habe, dass ich ihn aufhabe. Wenn er unterwegs mal fehlt (oder in der Tasche steckt), zum Beispiel während ich mit den Kinder auf die Eisdiele zusteuere, spüre ich den Stoff schon Meter vorher auf meiner Nase, was mich dararn erinnert, dass ich ihn aufsetzen sollte.

Mutter-Kind-Kur, 2. Tag. NEIIIIN, ich muss Perlenschmuck basteln!!!

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2014 war ich mit meiner damals Vierjährigen in der Mutter-Kind-Kur im Schwarzwald. Wie es dort war, erzähle ich hier im Rückblick.

Kind hat schlecht geschlafen und fragt trotzdem um halb 7 putzmunter, wann der Kindergarten endlich anfängt. Aber alles hat seine Zeit, auch das Frühstück, das nicht vor 8 Uhr eingenommen werden darf (denn vorher frühstücken die Schulkinder).

Im Speisesaal lernen wir die neue „beste Freundin“ der Tochter kennen, und da freut sie sich erst recht auf den Kindergarten.

So, Kind abgegeben, es baut Klötze. Man selbst hat aber : nichts zu tun. Aber alles hat seine Zeit. So auch die Körperpflege und das Spazierengehen in der Sonne (mit Sonnenhut, Sonnenbrille und Sonnencreme). Also wird diesen Tätigkeiten Zeit gewidmet. Dann Gespräch mit junger, vorsichtig fragender Psychologin (Praktikantin?), die mir danach nichts verschreiben kann außer „Perlenschmuck basteln“. Das will ich auf gar keinen Fall. Aber wer weiß, nächste Woche mach ich das dann vor lauter Langeweile doch.

Kind schon nach zweineinhalb Stunden wieder abgeholt, denn ich habe rein gar nichts zu tun und langweile mich. Mittagessen um 11:30, Spaghetti mit Tomatensoße. Danach Spaziergang. Wir befinden uns kurz unterhalb des Feldbergs im Schwarzwald. Die Tochter ist aber von dem steinharten Schnee und dem blanken Sonnenlicht nicht so begeistert. Noch 3 Stunden, bis wir ins Schwimmbad dürfen, und in dieser Zeit haben wir: REIN GAR NICHTS ZU TUN.

Ich lese die „Pläne“, die ich an der Rezeption erhalten habe. Die Tochter bastelt. Wir schmeißen den Stoffhund durchs Zimmer, wir räumen auf, machen Unordnung, räumen wieder auf, und schließlich gehen wir einfach raus auf den Gang und setzen uns neben den Kaffeeautomaten.

Noch eine halbe Stunde, bis das Schwimmbad für unsere Zielgruppe, Mütter mit Kindern von 2 bis 5, geöffnet hat. Meine Tochter und ihre neue „beste Freundin“ jagen sich immer rund um den Kaffeeautomaten.

Die Mütter, die ich bisher kennengelernt habe, sind alle geschieden. Sie haben einiges zu erzählen: von Ohnmachtsanfällen und Angstzuständen. Sie haben von der Psychologin einen vollen Terminplan bekommen. Sie dürfen auch Tanztherapie machen. Ich schmolle. Wenn schon irgendeine Therapie, dann lieber Tanzen als Perlen.

Während ich im Schwimmbad im Kinderbecken sitze und mich frage, warum ich nicht tanzen darf, haben meine Tochter und ihre neuen Freunde Riesenspaß, trotz fehlender Rutsche und absolutem Ins-Wasser-Spring-Verbot. Sie spielen Wettschwimmen und Siegerehrung. Solange bekomme ich einen Sonnenbrand von den Lichtreflexionen auf dem Wasser und höre den anderen Müttern zu.

Was den erhofften „Kureffekt“ angeht, so glaube ich mittlerweile, dass 3 Tage Festival mit 3 Wochen Feldberg gleichzieht. Auf einem Festival gibt es bis spät in die Nacht fettige Pommes, kalte Cocktails, harte Musik. Man isst auf dem Boden, trifft Freunde wieder, und wenn man dort Schmuck basteln oder einen Tanz lernen will, kann man sicher sein, dass man dabei etwas Neues kennenlernt, das in der eigenen Stadt erst ein Jahr später Fuß fasst. Ich bin nach 3 Tagen Festival immer so erholt, dass ich schwören könnte, diese Erholung geht nie vorbei.

Aber auf der Kur? Cola, Pommes, Nutella: Fehlanzeige. Statt dessen Körnerbrot und Krautsalat zum Abendessen. Viele gehen nur mit einem vorsorglich besorgten Riesen-Nutellaglas zur Essensausgabe. Denn mal ehrlich: Wie kannst du so ein armseliges Abendessen deinem Kind antun? Es soll sogar einige geben, die einen Pommesbräter von zu Hause in ihrem Zimmer stehen haben. Glaube ich.

Ich hätte mir den „Zauberberg“ von Thomas Mann mit auf den Feldberg nehmen sollen. Vielleicht hätte ich etwas daraus gelernt. Vielleicht wird es auch lustig, den „Zauberberg“ nach meiner Rückkehr einmal eingehender zu studieren.

Hier sind jedenfalls alle krank. Man weiß natürlich nicht genau, was alle haben. Aber die Wintersonne macht alle noch blasser. Da saß heute Abend eine ganz blasse Frau mit vor Kälte lila Lippen. Man kennt sich nicht, aber natürlich hat sie immer lila Lippen. Auch wenn sie vielleicht gerade nur aus dem Bad kam und deshalb fror.

Alle Beiträge zu unserer Mutter-Kind-Kur gibt es hier.