Coronatagebuch Tag #28

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Gestern Gartenarbeit. So viel, dass ich beim Augenschließen nur noch Erde, Steine und Wurzeln sehe. Muss trotzdem noch Rechnungen schreiben und Mails beantworten… daher wurde Tag #27 auch nicht dokumentiert.

Heute, also an Tag #28, genau wie gestern. Wieder Garten. Aber ich gehe erst gegen 17 Uhr nach draußen, vorher habe ich mir eine strikte Homeoffice-Zeit verordnet. Telko mit der Agentur des Vertrauens. Gespräch in etwa so:

A: „Kannst du dir vorstellen, mit so einem Budget zu arbeiten?“
B: „Ja, wir können nachher Popcorn machen.“
A: „Jetzt zieh endlich deinen Schlafanzug aus!“
B: „Ja, die Bedingungen sind gut, ich würde aber noch Details mit dem Kunden besprechen.“

Eine WhatsApp-Nachricht vom Freund trifft ein: Seine Familie und er lagen 14 Tage mit dem Virus flach. Er meint, dass es ihnen jetzt besser ginge. Gerade die jüngeren in der Familie hatten zu kämpfen, Grundschüler. Also doch nicht nur ein Virus für alte Leute.

So gute Laune

Die Kinder sind wieder den ganzen Tag so selbstständig drauf, dass ich mich kaum an Zwischenfälle mit ihnen erinnere. Der Mittlere, der sich immer selbst im Weg stand und jammern konnte wie ein Weltmeister, ist gerade ganz erstaunlich. Er hat einen Milchzahn ohne Klagen verloren, isst jetzt lieber Käse- als Nutellabrot und schreibt Geschichten von links nach rechts, die aus hunderten kleinen Bildchen bestehen, die er uns „vorliest“. Wir haben die verordneten Ferien genutzt, ihm nachts die Windel zu entziehen, was ohne einen einzigen Zwischenfall auch geklappt hat. Und überhaupt, er ist witzig und entspannt.

Auch die Nachbarn sind allerbester Laune. Nachbarin X verlegt ihre Akazienholzterrasse neu. Nachbarin A. hat nach zwei Wochen Krankschreibung nur eine Woche arbeiten müssen und genießt jetzt ihren Urlaub. Anstatt in die Niederlande geht es ins Bauhaus, aber das ist auch ok. Nachbar F. läuft mit einer Virtual-Reality-Brille auf dem Kopf über die Terrasse, schiebt sie sich kurz auf den Kopf, um das Real Life abzuchecken, und verschwindet wieder.

Alle haben gute Laune. Klar, die Arbeit ruht bei vielen fast oder ganz, und die Kinder spüren, dass bei den Erwachsenen der Stress, zu genügen, nachgelassen hat. Auch das Wetter spielt mit. Stell dir vor, es ist Apokalypse, und die Sonne scheint.

Es ist Sommer.

Regen haben wir seit einem Monat nicht mehr gesehen. Daher ist dieses Jahr der Frühling rund einen Monat früher dran als 2002. Das weiß ich zufällig, weil wir 2002 am 1. Mai spazieren waren und gerade die Buchenblättchen ausbrachen. Dieses Jahr sind die Buchenblättchen am 9. April soweit und alle Hügel sind in einen hellgrünen Schleier gehüllt. Das tröstet nicht darüber hinweg, dass wir aufgrund der großen Trockenheit in den letzten Jahren ein Waldsterben haben. Unser Wald ist zwar größtenteils verschont, Nadelwälder hat es härter getroffen, die Eichen auch.

Die Mücken stechen uns schon. Die Feuerkäfer krabbeln schon. Wir gießen den Garten um halb 9 Uhr abends, barfuß. Nachts liegen wir da mit geöffnetem Fenster.

Breiten sich Viren bei Trockenheit nicht langsamer aus? Gibt’s da einen Podcast zu?

Ich bin jetzt doch müde geworden ob der vielen Nachrichten. Maskeauf ist die neueste Aktion, die mit einem halben Auge wahrzunehmen ich mich gerade noch aufraffen kann. Promis treten für das Tragen des Mundschutzes ein. „Schick uns ein Bild von deiner selbst gemachten Maske! Das wird der sinnvollste Modetrend aller Zeiten.“ Gezeichnet, Charlotte Roche, Jan Böhmermann und alle.

Wie gesagt, der Boden für die allgemeine Masken-Akzeptanz in der Bevölkerung wird sehr gut vorbereitet.

Eine Freundin instagrammt das Symboldbild der Woche: Eine Nähmaschine. Die im Garten steht. Bereit für die letzten paar Stiche am hübsch geblümten DIY-Mundschutz. Im Hintergrund die Kinder. Das Spielhäuschen, das Dreirad. Und über allem: Sonne satt.

Heute sind es weltweit anderthalb Millionen Infizierte, davon rund 500.000 in den USA. In Deutschland sind es 115.523, davon sind 2451 gestorben, 50.557 wieder gesund.

Das Dorf meiner Träume

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Einmal im Jahr fährt die Landfamilie zu ihrem kleinen Lieblingsfestival. Das muss so sein.

Das Leben in der Festival-Blase ist anstrengend. Man muss Wasser über weite Strecken tragen, man verbrennt in der Sonne, man will einmal in 48 Stunden duschen und dann geht das Wasser nicht, oder man will seine Lieblingsband hören, für die man immerhin rund 300 Kilometer gefahren ist, und dann will stattdessen das Lieblingskind mit einem in einen kleinen Wald laufen und dort Wolf spielen.

Gleichzeitig ist das Leben in der Festival-Blase heiter, lebendig und intensiv, und das so sehr, dass man sicher ist, den Moment eingefangen zu haben und es niemals wieder aufhören wird. Man ist sich so sicher.

Umarmungen, pseudosportliche Spiele bei hohen Temperaturen, Kuscheln auf orientalischen Teppichen. Gebete, laut ausgesprochene Gedanken, Blicke, Knicklichter. Fremde Menschen, die schnarchen oder ihre Kinder fragen: „Hast du A-a gemacht?“, Fremde, die sich zu deinen Freunden erklären und dir deine Füße waschen wollen oder Zeitschriftenabos verkaufen. Und Sanitäter, die den hingefallenen Kindern saure Würmer schenken anstatt sie zum Röntgen ins Krankenhaus zu fahren und das hilft wirklich.

Das ist die Realität, nach der ich 361 Tage im Jahr suche.

361 Tage, an denen ich träume, unser Dorf wäre so ein Festival.

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Das Dorf als Festival – das Dorf meiner Träume

Wir haben nachts ganz gut oder aber gar nicht geschlafen.

Die Wärme treibt uns aus unseren Häusern. Wir sehen strubbelig aus, gähnen, nicken uns zu. Die Kinder rennen über den Platz, in den Sachen, die sie gestern schon anhatten. Die ersten Gaskocher zischen.

Ich stehe mit meinen Nachbarn an der Dorftoilette an und putze mir schnell die Zähne. Wasser läuft aus dem Schlauch. Ich frage eine Nachbarin, wie es gestern Abend so war. Ein Nachbar schlägt vor, zum Frühstücken zu dem leckeren örtlichen Frühstücksclub zu gehen. Ich sage zu.

Wir frühstücken, obwohl es schon 10 Uhr ist. Wir sind ungekämmt, haben wenig an und genießen es. Die Kinder rennen herum und klettern auf die Skulpturen, mit denen unser ganzes Dorf geschmückt ist. Einhörner und Hexenhäuschen aus Holz, Windspiele aus Metall, Spiegel. Ständig wird gesägt und gebaut. Der Spielplatz für Erwachsene erhält heute eine neue Hollywoodschaukel, einfach nur weil jemand Lust hatte, sowas zu bauen. Ob wir da mal vorbeischauen sollen?

Vereine, Kirchen und der Kindergarten sind offen für alle. Undurchsichtige Mitgliedschaften oder geheime Treffen zu geheimen Uhrzeiten gibt es nicht. Man findet alle öffentlichen Gebäude leicht, wenn man den Holzschildern folgt.

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Im Kindergarten kann man kommen und gehen wann und wie man will. Die Kinder spielen mit was und wie lange sie möchten. Die Hälfte der Erzieherinnen sind Männer.

Die Kirche hat offene Wände, die mit Stoffbahnen aus Ballonseide verhangen sind. Zu bestimmten Uhrzeiten ist die Kirche brechend voll, und das mehrmals am Tag und sogar mitten in der Nacht. Dann hört man das Singen, Beten und manchmal auch das Weinen durchs halbe Dorf. Ein paar Erschöpfte, oder welche, die keinen Platz mehr gefunden haben, sitzen rund um die Kirche, trinken Bier und warten auf eine Erkenntnis.

Mittags stelle ich mich zusammen mit einer Nachbarin und ihren Kindern bei einem der zahlreichen Cafés und Imbissen im Dorf an. Einige brutzeln das Essen auf Grills oder in halboffenen Wagen auf der Straße. Es ist immer köstlich. Wir müssen das Essen bezahlen, aber das ist es uns wert. Schließlich verbringen wir durch das Essen im Freien Zeit miteinander, und Zeit ist kostbar. Sie geht und kommt niemals wieder.

Wir lernen uns beim Essen besser kennen, wir schmieden gemeinsam Pläne, für den Tag oder fürs ganze restliche Leben. Wie absurd die Vorstellung, dass jeder im Dorf um dieselbe Uhrzeit in sein eigenes Haus gehen sollte, wo dann alle zeitgleich die Gas- oder Stromzufuhr anwerfen um an hundert verschiedenen Stellen gleichzeitig Essen warmzumachen, das sie nur mit ihrer engsten Familie teilen. Die Kinder wollen doch sowieso nie am Tisch sitzenbleiben und träumen schon nach dem ersten Bissen wieder vom Herumtoben und Umherstreunen. Völlig absurd!

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Nachmittags, wenn es am heißesten ist, ist es für die Müdesten unter uns Zeit, sich schlafen zu legen. Sie legen sich auf Bänke, auf Decken, mitten auf der Wiese. Süß sehen sie aus, eingekuschelt oder alle Viere von sich streckend. Andere gehen zu einem Seminar oder einer Sportstunde oder zu einem Bastelworkshop, je nachdem, was in der Nachbarschaft heute so angeboten wird.

Die größeren Kinder versammeln sich in der Ecke des Dorfes, wo sie sich unter der Anleitung der Junggebliebenen mit Skateboard, Baumklettern und Stöcke-Weitwurf beschäftigen, Grafittis sprayen, auf Instrumente eindreschen oder weiter an einer Geisterbahn bauen.

Die Eltern von Babys und Kleinkindern erkennt man an ihren vielen verschiedenen Tragevorrichtungen und Arten, Kinder in Wagen, Buggys, Bollerwagen, Fahrradanhängern und Trolleys vor sich herzuschieben. Väter tragen und schieben ihre Kleinen genauso häufig wie Mütter. Sie tragen und schaukeln die Kleinen in den Schlaf, während die Mütter seufzend ihre Füße im Planschbecken kühlen.

Wenn der Abend naht, erwacht das Dorf aus seiner Lethargie. Die Kinder bilden Banden und flitzen im Düsteren herum, als gäbe es kein Morgen. Die Erwachsenen überlegen, wieviel Bier sie wohl vertragen. Manche flirten. Manche streiten. Manche waschen ihr Geschirr oder stellen sich unter die Dusche. Man sieht und hört alles.

Abends und nachts läuft in den verschiedenen Gärten unterschiedliche Musik. Man kann zu Nachbar A gehen, bekommt dort für ein wenig Geld Pfannkuchen und die besten Surfhits. Im Garten von Nachbar B wechseln sich Sänger an der Gitarre ab, währenddessen kann man sich Zöpfe flechten lassen oder oder ein Bild malen. Bei Nachbar C gibt es Bier, Geschrei und Gestampfe zu bestem Metal. Und dann gibt es noch den Park, in dem elektronische Musik aus den Bäumen perlt, Cocktails fließen und Leute aller Altersstufen sich im Takt wiegen, bis der Morgen graut.

Das ist das Dorf meiner Träume. An 361 Tagen im Jahr.