Das Dorf meiner Träume

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Einmal im Jahr fährt die Landfamilie zu ihrem kleinen Lieblingsfestival. Das muss so sein.

Das Leben in der Festival-Blase ist anstrengend. Man muss Wasser über weite Strecken tragen, man verbrennt in der Sonne, man will einmal in 48 Stunden duschen und dann geht das Wasser nicht, oder man will seine Lieblingsband hören, für die man immerhin rund 300 Kilometer gefahren ist, und dann will stattdessen das Lieblingskind mit einem in einen kleinen Wald laufen und dort Wolf spielen.

Gleichzeitig ist das Leben in der Festival-Blase heiter, lebendig und intensiv, und das so sehr, dass man sicher ist, den Moment eingefangen zu haben und es niemals wieder aufhören wird. Man ist sich so sicher.

Umarmungen, pseudosportliche Spiele bei hohen Temperaturen, Kuscheln auf orientalischen Teppichen. Gebete, laut ausgesprochene Gedanken, Blicke, Knicklichter. Fremde Menschen, die schnarchen oder ihre Kinder fragen: „Hast du A-a gemacht?“, Fremde, die sich zu deinen Freunden erklären und dir deine Füße waschen wollen oder Zeitschriftenabos verkaufen. Und Sanitäter, die den hingefallenen Kindern saure Würmer schenken anstatt sie zum Röntgen ins Krankenhaus zu fahren und das hilft wirklich.

Das ist die Realität, nach der ich 361 Tage im Jahr suche.

361 Tage, an denen ich träume, unser Dorf wäre so ein Festival.

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Das Dorf als Festival – das Dorf meiner Träume

Wir haben nachts ganz gut oder aber gar nicht geschlafen.

Die Wärme treibt uns aus unseren Häusern. Wir sehen strubbelig aus, gähnen, nicken uns zu. Die Kinder rennen über den Platz, in den Sachen, die sie gestern schon anhatten. Die ersten Gaskocher zischen.

Ich stehe mit meinen Nachbarn an der Dorftoilette an und putze mir schnell die Zähne. Wasser läuft aus dem Schlauch. Ich frage eine Nachbarin, wie es gestern Abend so war. Ein Nachbar schlägt vor, zum Frühstücken zu dem leckeren örtlichen Frühstücksclub zu gehen. Ich sage zu.

Wir frühstücken, obwohl es schon 10 Uhr ist. Wir sind ungekämmt, haben wenig an und genießen es. Die Kinder rennen herum und klettern auf die Skulpturen, mit denen unser ganzes Dorf geschmückt ist. Einhörner und Hexenhäuschen aus Holz, Windspiele aus Metall, Spiegel. Ständig wird gesägt und gebaut. Der Spielplatz für Erwachsene erhält heute eine neue Hollywoodschaukel, einfach nur weil jemand Lust hatte, sowas zu bauen. Ob wir da mal vorbeischauen sollen?

Vereine, Kirchen und der Kindergarten sind offen für alle. Undurchsichtige Mitgliedschaften oder geheime Treffen zu geheimen Uhrzeiten gibt es nicht. Man findet alle öffentlichen Gebäude leicht, wenn man den Holzschildern folgt.

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Im Kindergarten kann man kommen und gehen wann und wie man will. Die Kinder spielen mit was und wie lange sie möchten. Die Hälfte der Erzieherinnen sind Männer.

Die Kirche hat offene Wände, die mit Stoffbahnen aus Ballonseide verhangen sind. Zu bestimmten Uhrzeiten ist die Kirche brechend voll, und das mehrmals am Tag und sogar mitten in der Nacht. Dann hört man das Singen, Beten und manchmal auch das Weinen durchs halbe Dorf. Ein paar Erschöpfte, oder welche, die keinen Platz mehr gefunden haben, sitzen rund um die Kirche, trinken Bier und warten auf eine Erkenntnis.

Mittags stelle ich mich zusammen mit einer Nachbarin und ihren Kindern bei einem der zahlreichen Cafés und Imbissen im Dorf an. Einige brutzeln das Essen auf Grills oder in halboffenen Wagen auf der Straße. Es ist immer köstlich. Wir müssen das Essen bezahlen, aber das ist es uns wert. Schließlich verbringen wir durch das Essen im Freien Zeit miteinander, und Zeit ist kostbar. Sie geht und kommt niemals wieder.

Wir lernen uns beim Essen besser kennen, wir schmieden gemeinsam Pläne, für den Tag oder fürs ganze restliche Leben. Wie absurd die Vorstellung, dass jeder im Dorf um dieselbe Uhrzeit in sein eigenes Haus gehen sollte, wo dann alle zeitgleich die Gas- oder Stromzufuhr anwerfen um an hundert verschiedenen Stellen gleichzeitig Essen warmzumachen, das sie nur mit ihrer engsten Familie teilen. Die Kinder wollen doch sowieso nie am Tisch sitzenbleiben und träumen schon nach dem ersten Bissen wieder vom Herumtoben und Umherstreunen. Völlig absurd!

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Nachmittags, wenn es am heißesten ist, ist es für die Müdesten unter uns Zeit, sich schlafen zu legen. Sie legen sich auf Bänke, auf Decken, mitten auf der Wiese. Süß sehen sie aus, eingekuschelt oder alle Viere von sich streckend. Andere gehen zu einem Seminar oder einer Sportstunde oder zu einem Bastelworkshop, je nachdem, was in der Nachbarschaft heute so angeboten wird.

Die größeren Kinder versammeln sich in der Ecke des Dorfes, wo sie sich unter der Anleitung der Junggebliebenen mit Skateboard, Baumklettern und Stöcke-Weitwurf beschäftigen, Grafittis sprayen, auf Instrumente eindreschen oder weiter an einer Geisterbahn bauen.

Die Eltern von Babys und Kleinkindern erkennt man an ihren vielen verschiedenen Tragevorrichtungen und Arten, Kinder in Wagen, Buggys, Bollerwagen, Fahrradanhängern und Trolleys vor sich herzuschieben. Väter tragen und schieben ihre Kleinen genauso häufig wie Mütter. Sie tragen und schaukeln die Kleinen in den Schlaf, während die Mütter seufzend ihre Füße im Planschbecken kühlen.

Wenn der Abend naht, erwacht das Dorf aus seiner Lethargie. Die Kinder bilden Banden und flitzen im Düsteren herum, als gäbe es kein Morgen. Die Erwachsenen überlegen, wieviel Bier sie wohl vertragen. Manche flirten. Manche streiten. Manche waschen ihr Geschirr oder stellen sich unter die Dusche. Man sieht und hört alles.

Abends und nachts läuft in den verschiedenen Gärten unterschiedliche Musik. Man kann zu Nachbar A gehen, bekommt dort für ein wenig Geld Pfannkuchen und die besten Surfhits. Im Garten von Nachbar B wechseln sich Sänger an der Gitarre ab, währenddessen kann man sich Zöpfe flechten lassen oder oder ein Bild malen. Bei Nachbar C gibt es Bier, Geschrei und Gestampfe zu bestem Metal. Und dann gibt es noch den Park, in dem elektronische Musik aus den Bäumen perlt, Cocktails fließen und Leute aller Altersstufen sich im Takt wiegen, bis der Morgen graut.

Das ist das Dorf meiner Träume. An 361 Tagen im Jahr.

Unser Kiez. Oder: Unser Dorf und wir

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Wenn ich meinen Sohn in den Kindergarten bringe, muss ich einmal quer durch den Kiez. Ne, Spaß. Wenn ich meinen Sohn in den Kindergarten bringe, und es ist einer der seltenen Tage, an denen mir die vielen Steigungen nichts ausmachen und an denen es nicht regnet, dann fahre ich mit dem Fahrrad durch unser wunderschönes Dorf.

Zuerst kommen wir durchs Sägewerk. Das ist für kleine Kinder eine Attraktion, aber nicht nur für die. Auch wir Großen staunen, wenn wir den Forwarder auf Schienen hin- und hergleiten sehen, geräuschlos fast, hörbar nur das Poltern der ganzen Stämme, die er hin- und herwirft. Jeden Werktag, von halb 7 bis 18 Uhr oder später gleitet der Riese hin und her, im Dunkeln ausgestattet mit hellen Scheinwerfern.

Wir fahren quer durch das Sägewerk, weichen den Seitenstaplern aus, den Schlange stehenden Lkw aus aller Welt und dem Radlader, der so riesengroß ist, dass er ein ganzes Wohnzimmer wegschieben könnte. Das macht er aber nicht, sondern er schaufelt täglich Berge von Sägespänen in Lkw hinein, die brummend und schnaufend damit talabwärts verschwinden.

Dann fahren wir an der Wiese mit den Kühen vorbei. Zwei Kühe sind es. Immer. Bis auf die wenigen Tage, an denen sie nicht zu sehen sind. Dann sagt mein Sohn: „Die Kühe sind im Stall“, und die Welt ist für ihn in Ordnung. Manchmal sehen wir weiter weg auch zwei Pferde.

Im Winter ist die Wiese überschwemmt. Sie kann Teil eines Flussbetts werden. Im Sommer macht die Familie Z. dort Heu, mit unterschiedlichen kleineren Maschinen und einer Heugabel.

Dann kommen wir an den zwei Schweinen vorbei. Ich weiß gar nicht, zu wem sie gehören. Vielleicht gehören sie zu dem betreuten Wohnen, einem Haus mit stillen Bewohnern, die manchmal laut Musik hören, und die auch Enten, Hühner und Hasen besitzen. Die Schweine sind schonmal ausgebüxt. Auch die Pferde. Und auch die Ziegen, eine ganze Herde. Aber ich schweife ab.

Nach den Schweinen fahre ich einen Fußweg entlang, der eigentlich zu schmal ist für mein Fahrrad und komme zu den Gasthäusern. Es sind zwei, beide sind nicht mehr in Betrieb. Das eine ist ochsenblutrot gestrichen und steht in einem alten Obstgarten. Fast könnte es die Villa Kunterbunt sein, wenn darin nicht ein Paar seine alten Tage verlebte.

Das andere Gasthaus ist größer und hässlicher, bietet aber Potenzial für alles Mögliche, finde ich. Daher war es auch bei Immoscout so schnell weg, als Schnäppchen. Kurze Zeit später wurde das leerstehende Gebäude mit Benzin übergossen und angezündet, der Brand konnte aber so schnell gestoppt werden, dass man dem Gebäude von außen nichts ansieht.

Damals, an der Jahreswende 2015/16, Flüchtlingswelle und so, da hätte ich das mehr als fahrlässige Zündeln sofort in Richtung „rechte Gewalt“ geschoben. Denn der alte Gasthof stand im Gespräch, ein Heim für Flüchtlinge zu werden. Um herauszufinden, was der Grund für die (versuchte) Brandstiftung nun war, müsste ich vermutlich eine Sage schreiben. Eine Schwarzwaldsage, bei der sich alle gruseln, die aber alles erklärt.

Dann kommt der Bahnübergang und dann die Holzbrücke über den Fluss. Das ist meine Lieblingsstelle. Im Sommer feiern wir auf der Brücke. Ich weiß zwar nicht so genau wieso, aber es gibt Wurst und Bier und es gibt Feuerwehrleute, die braten und ausschenken. Es gibt auch Blasmusik, es gibt Kuchen, es gibt ein Feuerwehrfahrzeug, das mit den Kindern Runden fährt. Die Kinder stehen mit den nackten Beinen im Fluss, und die Großen sitzen auf derselben Bierbank wie im Jahr davor, mit denselben Bekannten am Tisch, so als wäre zwischen dem letzten Sommer nicht ein Jahr sondern nur eine Stunde vergangen.

An den weniger heißen Tagen stehen die Fliegenfischer ganz in schwarzen Gummisachen im Fluss und fangen Forellen. Jetzt im Winter ist der Fluss ein Gebräu, das Äste und Einkaufswagen ablädt.

In der Adventsszeit führt auch der Adventsweg über die Brücke, die zwei Teile eines Dorfes oder zwei Teil-Dörfer miteinander verbindet. Dann sind an allen Pfosten Zweige festgemacht, überall flackern Teelichter und Kunstbelichtung, und alle haben es schön, oder wollen es zumindest schön haben.

Ich überquere die Bundesstraße und komme noch an drei Häusern vorbei, bevor der Weg abbiegt hinauf zur Kirche, neben der unser Kindergarten steht. Das letzte Haus am Waldrand zieht stets meinen Blick auf sich, denn einmal ganz rundherum türmen sich – Dinge. Autoreifen, Spielzeug, Bücher, Gartengeräte, Teile für irgendwas, Krims und Krams. Es sind Türme, ganze Städte.

Das erinnert mich immer an eine Nachbarin in meiner ehemaligen Heimatstadt, die sich nicht trennen konnte, oder zumindest: die nichts wegwerfen konnte. Alles, alles was sie auf Flohmärkten geschenkt bekam, stellte sie in den Vorgarten ihres Mietshauses, ausdrücklich zum Wegnehmen. Das waren meist alte Bücher und Keramik. Aber immer mal wieder waren auch Kindersitze, Hochstühle, Babybadewannen und größere Spielzeuge mit dabei. Das rissen wir Neu-Eltern natürlich an uns, versteht sich.

Jetzt biege ich ab, Wald rechts, Fluss links, und fahre hinauf zur Kirche, die meinen Kindern viel Begeisterung entlockt. Sie wird liebevoll „Ding-Dong“ genannt. Da sie an den Kindergarten angrenzt, läutet sie hier immer besonders LAUT. Dann heißt es „DING-DONG!!!“ (gebrüllt).

Ja, bei uns ist was los.

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Ich freue mich, dass dieser Beitrag teilnehmen durfte in der Reihe #kiezmitkind bei Mami Rocks. Hier geht der Artikel, wie er bei Mami Rocks erschienen ist: http://mamirocks.com/leben-mit-kindern-im-schwarzwald-oder-mein-dorf-und-ich/

Kitas und Kindis. Oder: Fischstäbchen vs. Waffeln. Achtung Klischeewarnung

Wenn ich über Kindergartenplätzemangel, Kindergartenmittagessen und Kindergartenöffnungszeiten lese, also in den Medien oder auf Blogs, dann wird dieses lange Wort K-I-N-D-E-R-G-A-R-T-E-N meist so abgekürzt: Kita.

Die Kitas

Kitas haben endlose Fluren mit einer unendlichen Anzahl an Haken. Kitas riechen nach Kartoffelbrei- und Fischstäbchen-Dunst. In Kitas treffen die Eltern, die sich mit dem Fahrradanhänger durch den Morgenverkehr gequält haben und nach der Kinderabgabe schnell wieder gehen müssen, nur für ein paar Millisekunden aufeinander. In Kitas gibt es Schwarze Bretter voller Zettel mit Angeboten von der Caritas, dem Kinderschutzbund, der Psychologischen Beratungsstelle, dem Frauenhaus, auf Deutsch, Türkisch, Arabisch und Russisch.

Die Kindis

Und dann gibt es noch die Kindis. Das sind die Dorf-Kindergärten, die einfach nur rundum süß und lieb und vertrauenserweckend, sauber und übersichtlich sind. Kindis haben auch mal nur zehn Kindern pro Gruppe. In Kindis wird täglich draußen gespielt, und vor der Abholzeit wird laut und sauber(!) bekanntes Liedgut gesungen.

Kindi-Eltern basteln nicht nur die Laternen (sowieso eine Selbstverständlichkeit), sie  bauen auch Brunnen, Hochbeete, Bänke, Spielgeräte und Haltestellenwartehäuschen. Die Mütter kommen nicht nur zum Muttertag in den Kindi, sondern auch jeden Monat zur gemeinsamen Andacht. Und wenn etwas gebacken, jemand verabschiedet, Päckchen für arme Leute gepackt oder sonstwo geholfen werden muss, sowieso.

Im Kindi kennt jeder jeden aus anderen Zusammenhängen als aus dem Kindi. Die Mutter, die neben dir in der Garderobe ihren Nachwuchs zur Eile antreibt, ist entweder deine direkte Nachbarin, die Mutter eines guten Spielkameraden eines deiner Kinder, deine Sandkastenfreundin oder deine Schwägerin. In der Regel alles zusammen. Trifft keiner der vier Bekanntsheitsgrade zu, bist du vermutlich nicht von hier.

80 Prozent der Kindi-Eltern stehen nach vier Stunden schon wieder abholbereit im Gruppenraum, den sie selbstverständlich betreten dürfen. Denn ein Kindi mit Regelöffnungszeiten (RÖ) hat nur 4 Stunden auf. Aber auch in einem Kindi mit Verlängerten Öffnungszeiten (VÖ) von 6 Stunden werden Kinder nicht die volle Zeit geparkt. Vier Stunden, das reicht schon. Zum Mittagessen sind alle wieder daheim.

Kindergartenplätzemangel, Kindergartenmittagessen und Kindergartenöffnungszeiten?

Liefern auf dem Dorf wenig bis gar keinen Gesprächsstoff. Die Kindi-Plätze müssen natürlich belegt werden, sonst wird wegen Kindermangel wieder eine Gruppe geschlossen. Soviel ist klar. Wir Dorfeltern sind also dazu verpflichtet, weiterhin für Nachwuchs zu sorgen, so sagte es uns jedenfalls der Pfarrer.

Warmes Essen gibt es im Kindi nie (bis auf Ausnahmen wie gemeinsames Waffelbacken), das wäre ja auch komisch, weil alle Haushalte (oder wenigstens die Oma-Haushalte) mittags ein warmes Essen für die Kindi-Kinder auf den Tisch stellen können. Die Öffnungszeiten bleiben also erstmal so. Mit 6 Stunden VÖ haben wir hier auch nichts zu meckern. Es gibt weitaus Schlimmeres!

Mit Laternen durchs Dorf. Ein Selbstversuch

Laternenumzug aif dem Dorf: Zum Stehenbleiben ist alle Zeit der Welt.

Laternenumzug auf dem Dorf: Zum Stehenbleiben ist alle Zeit der Welt.

Es ist immer dasselbe. Zahlreiche Eltern regen sich alljährlich über den Laternenumzug auf: Da sind viel zu viele Menschen, vom schieren Gewimmel übermannte Kleinkinder, die ihre Laternen oder gleich die Erwachsenen verlieren, irgendwo da vorne soll ein Pferd laufen, ich muss Pipi, und zum Schluss, wenn sich das Übel ein wenig gelichtet hat, man das Martinsfeuer und das Martins-Anspiel irgendwie verpasst hat, muss man am Straßenrand Smalltalk mit Strangern halten.

Jetzt wohnen wir genau ein halbes Jahr auf dem Land und als Neulinge wollen wir überall dabei sein. Gerade die Kinder wollen es. Also auf zum Laternenumzug ins Dorf.

In der Stadt: Wann geht es endlich loooos?

Aus der Stadt erinnere ich mich an abgesperrte oder von Feuerwehr und Polizei gesicherte Straßen, wo man natürlich nicht parken durfte und man von Glück reden konnte, wenn man eine der mikroskopisch kleinen Parklücke gefunden hatte. Wenn ich es überhaupt geschafft hatte, mit dem Auto von zu Hause zu kommen. Meist wurden die Kinder zwischen 15 und 16 Uhr vom Kindergarten abgeholt, die Laternen in der Hand, und dann mussten wir irgendwie die Zeit in der Stadt totschlagen, bis es endlich losging. Mit inzwischen müde und hungrig gewordenen Kindern.

Auf dem Dorf: Jeder kennt jeden. Und alle können singen

Auf dem Land laufen die Uhren wortwörtlich anders. Kein Kind, egal ob Kindergarten oder Schule, kommt hier jemals nach 14 Uhr nach Hause. Wir gehen also ganz gemütlich von zu Hause aus zum Laternenumzug, zehn Minuten Fußweg haben wir bis zum Treffpunkt. Dort angekommen: nur bekannte Gesichter. Natürlich kenne ich nicht jeden, ich bin froh, wenn ich die Vornamen weiß und das Du-Sie-Verhältnis geklärt ist. Trotzdem: Es ist klar, wer hier zusammengehört, welche Kinder mit Oma und Opa und Geschweistern, welche nur mit Mama gekommen sind. Kein Anlass unsererseits, hektisch die Köpfe hin- und herzudrehen auf der Suche nach jemandem, den man kennen könnte und neben dem zu laufen eventuell ganz angenehm wäre.

Ein Pferd gibt es dieses Jahr nicht. Aber Liedblätter. Mit SEHR VIELEN Liedern darauf. Alle hundert Meter stoppt der Zug, zwei Trompeten spielen, sehr sauber übrigens, und die kleine Menge bildet einen Kreis. Alle singen. Dann geht es weiter. In der Zwischenzeit hat jeder jeden registriert, vielleicht auch schon begrüßt. Die Kinder rennen nach vorne. Lassen sich dann wieder ein Stück nach hinten zurückfallen.

In der Stadt: Keine Sicht, zerquetschte Laternen und DER Alptraum…

In der Stadt versuchen alle, sich von Anfang an einen guten Platz zu sichern. Am besten möglichst dicht hinter dem Pferd, sonst hat das Kind ja gar nichts davon. Aber dieses Privileg ist nun mal nicht allen 1000 Teilnehmern des Umzugs vergönnt. Gut ist aber auch ein Platz in der Nähe des Orchesters. Dann kann man wenigstens hören, wann welches Lied angestimmt wird.

Aber eigentlich geht es den ganzen Umzug über nur um Schadensbegrenzung. Irgendwann ist einem ganz egal, welches Lied gerade gespielt wird. Hauptsache, das eigene Kind läuft noch neben einem. Die Menschenmenge bleibt ab und zu stehen, es werden Ansprachen gehalten, vielleicht von einem Pfarrer, keine Ahnung, man sieht nichts und ist sowieso damit beschäftigt, sein Kind festezuhalten, das nicht weiß, wozu schon wieder alle stehenbleiben. Man selbst weiß es ja auch nicht so genau.

Und wehe, wehe, dein Kind muss austreten. Oder die Kerze geht aus, eine Nase muss geputzt werden, was auch immer. Sofort hat man seinen mit großer Mühe in der Menge erkämpften Platz verloren, der sich immerhin dadurch auszeichnete, dass einem die Gesichter rundum ein klein bisschen bekannt vorkamen. Oder dass wenigstens genug Platz für die Laterne war. Jetzt läuft man plötzlich in einem völlig fremden Pulk mit, die stoßen und drängen und fast die Laterne zwischen sich zerquetschen.

Und dann, der Alptraum: Ein kleines Kind trudelt uns plötzlich entgegen, es läuft unsicher, aber eindeutig gegen den Strom, ruft verzagt „Mama? Mama?“ Keiner kennt es, geschweige denn seine Mutter, es trudelt an uns vorbei, wie ein Zweig in der Strömung, nur eben in die falsche Richtung. Ich bin vor Schreck wie erstarrt. Zum Glück ist eine Mutter neben mir beherzter als ich. Sie nimmt das Kind fest an der Hand, sodass es aufhört in die falsche Richtung zu trudeln und sagt: „Komm mit! Wie heißt du? Wir suchen jetzt deine Mama!“ Während das Kind sofort wieder lacht, muss ich fast weinen. Ich werfe einen Blick auf meine Tochter, die immer noch neben mir geht. Was, wenn ich sie verloren hätte?!

Auf dem Dorf: Die Kinder dürfen hinrennen wohin sie wollen

Zurück zum Dorf: Wir haben unseren kurzen Umzug, der hauptsächlich aus Liedersingen bestand, fast beendet. Keiner ist getreten, gestoßen oder abgehängt worden. Alle, auch die Kleinsten, sind noch fit. Wir laufen über eine Wiese und sehen von Ferne schon das Feuer qualmen. Das hat aber nicht die Feuerwehr angezündet, sondern Familie F. Tatsächlich komme ich zum ersten Mal so nah an das Martinsfeuer heran, dass ich es wirklich sehen kann. Familie F. verteilt auch den Punsch, die Hotdogs und die Martinsweckle. Der Hof ist so groß (oder unsere Truppe so klein), dass sich die Kinder angenehm verlaufen und im Dunkeln irgendwelche Horden bilden. Aber keiner hat Angst, sein Kind könnte auf einmal für immer verschwinden. Ich könnte jeden Erwachsenen im Hof fragen, ob er/sie meine Tochter gesehen hat, und ich würde sofort den Weg gewiesen bekommen.

Und so lasse ich sogar den Kleinen (16 Monate) durch den Hof stapfen und erlaube ihm, alles zu erkunden, mit zwei Ausnahmen: das Feuer und die Dunkelheit jenseits des Lichtkreises. Es läuft hierhin und dorthin, ändert ständig die Richtung, grinst immer, wenn er in ein Gesicht blickt und hat dabei die Backen voll süßem Gebäck. Es gefällt ihm. Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Große einen Martinsumzug wirklich genossen hat, bevor sie nicht 4 Jahre alt war.

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Andere Eltern haben in den letzten Tagen gruselige Martinsumzüge dokumentiert. Zwei davon stelle ich hier vor:

  1. Das Nuf, ihres Zeichens Laternenbastel- und -umzugsprofi aus Berlin schreibt unter der Überschrift „Sein erster Laternenumzug in der Stadt“ (ihr Freund muss zum ersten Mal mit den Kindern und mit Laternen um die Häuser ziehen):

Quelle: Das Nuf Advanced: „Sein erster Laternenumzug in der Stadt“

2. Pia D. von „Daily Pia“ hat in „Laterne, Laterne“ beschrieben, wie schlimm es war, als sie 2 Jahre alt war und ihre Laterne einfach verbrannte. Und wie ihr schlauer Bruder ihr eine neue besorgte.