Freitagnachmittag. Momentaufnahme

„Da kam kein Becher raus!“

Das sechsjährige Mädchen ruft das quer durch die Filiale des Discounters. Sie klingt sehr bestimmt.

Ich bin in die Stadt gefahren. Eigentlich will ich hier nur parken und weiter zur Bank. Aber dann wollen die Kinder Brezeln. Also gut. Ich betrete den Discounter, um das allseits beliebte Gebäck aus dem Backautomaten zu ziehen.

Ein Mitarbeiter erscheint. „Wo kam kein Becher?“

„Hier!“ Das Mädchen zeigt auf den neuen Getränkeautomat. „Ich wollte Kakao und da kam kein Becher.“

Also verlässt der Mitarbeiter seinen überfüllten Laden, um sich die Sache mal anzusehen.

Der neue Getränkeautomat ist sehr beliebt. Er ist noch vor der Durchgehschranke aufgebaut, dort, wo man auch die Wagen abklipsen kann. Ein junger Mann steht davor, trinkt aus seinem Becher, ruft in sein Handy: „Ich hab es jetzt abgeschickt. Hast du es nicht bekommen?“ Er spricht sehr deutlich, weil er unbedingt verstanden werden will. Und dann steht die ganze Familie des kleinen Mädchens da. Mama, Papa, zwei kleine Brüder. Jeder mit seinem Freitagnachmittaggetränk in der Hand. Nur das Mädchen hat nichts bekommen.

Um diese Zeit ist es auch bei uns im Dorf-Discounter immer etwas voller als sonst. Aber ganze Familien sehe ich hier nicht. Und auch selten Männer. Der gemeine Mann geht nicht einkaufen. Das ist Frauensache. Und das Handy bleibt in der Tasche. Oder gleich zu Hause. Und wenn der Automat keinen Becher bereitstellt, dann ist das eben so. Das muss ein Kind schonmal aushalten. Wo kämen wir hin, würde jedes Kind direkt die Mitarbeiter anquatschen, wenn ihm irgendetwas nicht passt. Gar nicht mehr zum Arbeiten kämen die. Das Kind könnte doch etwas für sich aus der Situation lernen. Das man nicht immer alles haben kann, zum Beispiel. Außerdem hat es sowas früher auch nicht gegeben.

Im Stadt-Discounter aber scheint jeder sein Handy eigens zu dem Zweck mitgenommen zu haben, um es hier auch zu nutzen. Wenn er nicht gerade einen der Mitarbeiter am Arbeiten hindert. Es ist eine stille Abmachung zwischen allen: Wir haben den öffentlichen Raum besetzt. Nicht mit Gewalt, sondern allein durch unsere Präsenz. Er gehört uns, uns allen. Würde man ihn uns wieder wegnehmen, dann würden wir ganz sicher darum kämpfen. Wie um den Becher, der da nicht rausgekommen ist.

Eine eine junge Frau fotografiert ihren Liebsten mit ihrem Smartphone, während die beien seelenruhig auf der Packablage sitzen – der Ablage, auf der man, nachdem man bezahlt hat, seine Waren ablegen kann, um sie einzupacken. Man kann aber auch einfach nur darauf sitzen, mit den Beinen baumeln und Fotos machen.

Das heißt, im Stadt-Discounter geht das. Im baugleichen Dorf-Discounter würde der Kassierer die junge Frau und ihren Liebsten wohl bald fragen, was sie da machen, und wie lange sie noch beabsichtigen, dieses zu machen. Der Kassierer hätte aber auch nicht so viel zu tun. Er würde eine Pause in der Kundenschlange nutzen, um den Kopf zu heben. Dabei würde ihm das junge Paar auffallen, das aber in ebendieser Sekunde aufspringen und rausgehen würde. Weil sie nicht gefragt werden wollen, was sie da machen. Weil die Frau des Kassierers eh die Friseurin der Familie ist. Und die junge Frau keine Lust hat, demnächst von der Friseurin gefragt zu werden, wann sie ihren Liebsten denn endlich heiraten will. Der Kassierer würde also nur den Kopf schütteln und einen Schluck aus seiner Sprudelflasche nehmen, bevor er wieder an die Arbeit geht.

Aber in der Stadt nimmt sich der Liebste Zeit beim Fotografiertwerden. Er lächelt. Es soll ein gutes Bild werden. Keiner interessiert sich für das Duo auf der Packablage. Ach ja: Der Getränkeautomat geht wieder. Der Mitarbeiter hat seinen Schlüssel in den Automat gesteckt und einmal umgedreht. Dann ist er schon wieder gegangen, zurück ins Gewühl seiner Filiale.

Das Mädchen hält seinen Kakaobecher in der Hand und ruft laut hinter ihm her: „Dankeschön!“

Muss man alles teilen?

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„Kann ich für ein paar Tage auf eurer Couch schlafen?“

„Kannst du auf mein Baby aufpassen, während ich den Schrebergarten gieße? Dafür bekommst du alle Kirschen, wenn sie reif sind.“

„Kann ich meine Kisten für unbestimmte Zeit in eurer Garage abstellen?“

„Bringst du mir etwas Französisch bei? Ich zeig dir dafür, wie die Nähmaschine funktioniert.“

„Wir sitzen heute Abend am Fluss rum. Kommt ihr auch?“

Was wir teilten

Wir teilten den Alltag miteinander. Zeit, Material, Ressourcen, Quadratmeter, Essen, Trinken und Gedanken. Nebenbei ergab es sich, dass wir gemeinsam Perspektiven entwickelten, Ideen spannen und  zusammen von Freiheit und Selbstständigkeit träumten.

Von was wir träumten

Finanziell unabhängig zu sein, wünschte sich der eine. Endlich das Urteil der eigenen Eltern hinter sich zu lassen, der andere. Oder: Einen Job oder einen Abschluss zu erhalten. Bedeutung zu erlangen, in was auch immer. Die Welt zu verbessern mit seinem Talent, seinem Geld oder in seinem Job. Oder: Weiterstudieren, eine Ausbildung machen, trotz Widrigkeiten. Einen Partner fürs Leben finden. Endlich alle Traumländer bereist haben. Vielleicht ein bisschen weiter unten angesiedelt, aber genauso rechtmäßig: den Anschluss an die Gesellschaft nicht ganz verlieren.

Warum wir uns trafen

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Diese Wünsche und Träume waren es, die uns zueinander brachten und uns zusammenschweißten. Gekommen, um zusammen eine Webseite für eine Geschäftsidee zu konzipieren, blieben wir, um uns eine ganze Serie anzusehen. Gekommen, um einen Geburtstag zu feiern, blieben wir, weil das Bier so gut war. Gekommen, um beim Unkrautjäten zu helfen, blieben wir zum Abendessen oder einfach nur, um noch gemeinsam den Sonnenuntergang zu bestaunen.

Warum wir glaubten, modern zu sein

Wir redeten viel darüber, dass man heutzutage alles miteinander teilt. Wir sagten: „sharet“. Freie Zimmer oder Betten warfen wir in den Ring: Wer will hier wohnen bzw. schlafen? Dafür nahm dann jemand anderes unsere Möbel, wenn wir für ein Jahr ins Ausland gingen. Alle Kinderkleidung kursierte irgendwie zwischen allen Haushalten hin und her. Gebrauchte, aber noch funktionierende Kindermöbel, Kinderfahrräder und Kindersitze standen manchmal einfach so auf der Straße mit einem Zettel dran: Bitte mitnehmen.

Wir redeten über die Sharing Economy, meditierten über den Erfolg von Coworking, Mitfahrgelegenheit, Car Sharing und Airbnb, bis es jenseits unserer Vorstellungskraft lag, dass es Leute geben könnte, die noch in herkömmlichen Büros arbeiteten, mit vollem finanziellen Einsatz einen eigenen Neuwagen kauften und diesen ganz alleine fuhren, oder die gar bei einem Reiseanbieter Ferienhäuser buchten.

Warum das Teilen auf dem Land nicht funktioniert

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Auch auf dem Land hatte ich die Möglichkeit, bei einem gemeinsamen Gartenprojekt mitzumachen. Geleitet wurde das Projekt von der Gemeinde. Wir bauten Hochbeete, versetzten Sträucher, pinselten einen Bauwagen an.

Aber ich habe mein Beet wieder abgegeben. Der Grund: Ich habe zu Hause eigene Beete, und einen Riesen-Balkon, und unzählige Fensterbretter mit Pflanzen. Da bleibt für das gemeinsame Unkrautjäten und Grillwurst wenden in sieben Kilometer Entfernung keine Zeit. So banal das klingt.

Unsere große Wohnung ist ein Geschenk. Es entschleunigt, nicht in Auto, Bus oder Bahn steigen zu müssen, um andere Menschen treffen zu müssen, mit denen man dann etwas nur teilt.

Aber so eine Wohnung mit viel Abstellfläche, Balkon und Garten verpflichtet. Und so jäte ich meigenes, ganz persönliches Unkraut jetzt eben alleine. Mache einen Schritt in meine Küche, die ganz genau so aufgeräumt oder nicht ist, wie ich es will, mache mir einen Kaffee und trinke ihn – alleine. Die Tomatenernte sieht gut aus dieses Jahr. Wie in allen anderen Gärten auch. Wir müssen uns gar nicht gegenseitig mit Tomaten beschenken. Jeder hat welche.

Wie begeben uns auch nicht mehr so in Abhängigkeiten. Wir fühlen uns nicht mehr verpflichtet, unser Auto oder unsere Zeit, unser Sofa oder Geld gar zur Verfügung zu stellen. Wir erwarten nicht mehr, dass das Telefon klingelt mit der Frage „Kann ein befreundeter Musiker heute Nacht bei euch schlafen?“ oder „Kann ich mal mein Baby zu dir bringen, ich muss kurz einkaufen gehen?“ oder „Mein Konto ist leer, aber ich muss dieses Ticket kaufen, hast du mal 200 Euro?“. Im Gegenzug erwarten wir von den anderen auch nichts. Das macht frei.

Ich habe jetzt einfach mehr Zeit. Für mich (Me-time). Für meinen Garten. Für meine Kinder. Die mich schon lange nicht mehr fragen: „Können wir mal wieder… mit Freunden spielen, zum Spielplatz, in ein Café, ein Eis, zu einem Konzert???“ Sie wissen es jetzt besser. Sie haben sich. Ihre Zimmer. Ihr Spielzeug. Ihr Grundstück. Uneingezäunt, aber mit einer imaginären Grenze. Das, was dahinter liegt, wird Tag für Tag irrelevanter.

Bis ich schon gar nicht mehr weiß, wo ich eigentlich bin und welches Jahr oder Jahrzehnt wir gerade haben. Es ist mir ehrlich gesagt auch egal. Mir fehlt ja nichts. Meine Kinder, meine Hausgeräte, mein Geschirr, mein Essen und meine Müllmarken, mein Beet, mein Auto, meine Werkstattrechnung, mein Leben. Ich kann mich nicht erinnern, aber wahrscheinlich wollte ich es so.

In der Stadt geht man auf die Straße, und es ist sofort was los

Ich hatte neulich ein langes Gespräch mit einem Bekannten. Unsere Kinder tobten herum, wir saßen zusammen im Eigenheim des Bekannten mit ganzer Familie, bei Advent, Kaffee und Keksen. Ich sagte: „Ich will viel lieber in der Stadt leben. In der Stadt geht man auf die Straße, und es ist sofort was los.“

Der Bekannte: „Gottseidank wohnen wir auf dem Land. Hier ist es so ruhig. Die Luft ist so frisch. Ich könnte nie woanders wohnen. Warum willst du dir und vor allem deinen Kindern den Lärm der Stadt geben?“

Ich: „Da gibt es Spielplätze, wo sie immer alle Freunde treffen, ohne dass man sich verabreden muss. Auf dem Weg dorthin kaufen sie sich selbstständig was beim Bäcker. Sie wissen, wieviel was kostet. Sie wissen genau, wann die Bahn fährt und dass sie beim Überqueren der Straße nach links und rechts schauen müssen. Und ich kann sie zur Not jederzeit auf ihrem Smartphone erreichen.“

Der Bekannte: „Naja. Auf dem Land kann ich mein Kind jederzeit auf dem Fahrrad durchs Dorf fahren lassen, ohne mir die geringsten Sorgen machen zu müssen. Alle die hier wohnen, kennen meinen Sohn und werden auf ihn achten. Ich kann jederzeit fragen: Hast du meinen Sohn vorbeifahren sehen? Da braucht der kein Smartphone.“

Ich: „Okay, jetzt sind sie noch klein und es reicht ihnen, ab und zu eine Runde durchs Dorf zu drehen. Aber wenn sie älter werden und regelmäßig in die Kreisstadt fahren, sind sie ganz schön allein unterwegs. Wenn deine Tochter abends irgendwo als einzige auf die S-Bahn wartet, passt keiner auf sie auf. Ab 18 Uhr sind doch in dem gottverlassenen Nest, das sich Kreisstadt schimpft, die Bürgersteige hochgeklappt. Denk an die Drogenclique am Bahnhof. Da laufen selbst Achtzehnjährige zu Zweit nicht gerne dran vorbei. Ein Mädchen aus unserem Dorf wollte in den letzten Bus einsteigen. Sie war ganz alleine. Fünf Typen haben sie am Einsteigen gehindert. Da schlafe ich doch ruhiger, wenn ich weiß, meine Tochter steht auch noch nachts um zwei immer zusammen mit einer großen Schar Gleichaltriger, Studenten, Pärchen und Touristen an der Bushaltestelle.“

Der Bekannte: „Meine Kinder machen so schnell wie möglich ihren Führerschein! Und bis dahin fahre ich sie. Aber jetzt im Ernst, ich lasse die doch nicht nachts – und auch tagsüber – nicht sinnlos durch die Straßen ziehen. Das fängt in der Stadt ja schon im Grundschulalter an. Und ständig dieses Shoppengehenmüssen und immer neuestes Iphone und – igitt – Hotpants. In der Stadt passieren so viele Vergewaltigungen und Morde.“

Ich: „Ja, aber denk mal an die Partygänger, die in der Kurve der Bundesstraße verunglücken. Das passiert hier doch dauernd. Party, Alkohol im Nachbardorf. Und dein Kind sitzt da vielleicht auf dem Beifahrersitz, weil ihm das in dem Moment sicherer erscheint, als eine Stunde lang einsam auf die letzte S-Bahn zu warten. Sowas passiert in einer Stadt mit Bussen, Bahnen und Taxis, die auch nachts getaktet fahren, definitiv nicht!“

Der Bekannte: „In der Stadt passieren so viele Unfälle, und so viele Überfälle und so viele Vergewaltigungen, alleine schon weil dort so viele Autos fahren. Weil dort so viele Menschen leben, die ich nicht kennen kann – und im Übrigen auch niemals kennenlernen möchte. Hier im Dorf laufe ich los und kenne jeden, dem ich auf meinem Weg begegne. Ich laufe zu meinem Stammtisch oder zu einer Vereinssitzung, oder mit den Kindern zum Laternenfest. Auch dort kenne ich jeden – ich war mit jedem einzelnen von denen ja schon im Kindergarten! Aber in der Stadt: Da laufen mir ständig Asis, Arbeitslose, Ausländer undsoweiter über den Weg. Da gibt es Viertel, in die geht man aus guten Grund nicht. No go areas.“

Ich: „Ich will ja gerade, dass meine Kinder sich mit vielen unterschiedlichen Leuten auseinandersetzen. Ich will nicht, dass sie denken, die Welt besteht nur aus heilen weißen deutschen Familien, Vatermutterundzweikinder, alle sind Christen, alle haben ein Haus, eine Großmutter, zwei Autos und ein Trampolin.“

Der Bekannte: „Haha, naja, haut hier ungefähr hin.“

Ich: „Wie sollen unsere Kinder hier im Dorf denn einen Bezug zu der Welt kriegen, in der wir leben? Sie sollen sehen, dass jeder Mensch anders ist. Dass man unterschiedliche Sprachen sprechen und sich trotzdem verstehen kann. Sie sollen einschätzen können, warum jemand wie auf sie reagiert. Warum jemand eine andere Meinung hat als sie selbst und was sie darauf erwidern sollten. Und was sie in unangenehmen Situationen unternehmen sollten. Schlagfertigkeit. Toleranz. Überlebenstaktik. Kulturelle Kompetenz. Alles, was sie hier eben nicht lernen können.“

Der Bekannte: „Aha. Dann möchtest du wohl auch, dass deine Tochter mit Schlägern, Asis und sonstigen Kindern aus total kaputten Elternhäusern in eine Klasse geht? Ich weiß, wovon ich rede. Ich bin selbst in einer Stadt zur Grundschule gegangen. Das soziale Klima dort war übelst. Das hat mich völlig runtergezogen. Oder nimm zum Beispiel Berlin. Die Brennpunktschulen.“

Ich: „Natürlich will ich nicht, dass meine Kinder runtergezogen werden! Aber wenn man das nicht möchte, hat man in der Stadt immer eine Wahl. Ich kann in einer größeren Stadt wählen zwischen alleine  – sagen wir – zehn privaten Grundschulen in nächster Nähe. Von weiterführenden Schulen ganz zu schweigen.“

Der Bekannte: „Jetzt pass mal auf. Du möchtest also doch in deiner eigenen heilen Welt leben und nur Leute treffen, die zu dir passen? Das hast du doch hier auf dem Land gratis. Die Eltern in den Städten, die können kein Auge zutun und machen sich total verrückt. Anstatt ihr Kind in die Schule um die Ecke laufen zu lassen, stehen sie jeden Morgen eine Stunde früher auf und fahren ihr Kind ums Verrecken mit dem SUV ans andere Ende der Stadt, wo es mit lauter fremden Kindern in eine elitäre Schule gehen muss. Und dann werden die Kinder auch noch viel früher eingeschult, und sind schon ab dem Alter von 5 Jahren im Ganztag. Wann kommen die nach Hause? Vielleicht um 4 oder halb 5. Wann wollen die noch was mit ihren Freunden ausmachen? Wann spielen die mal? Wann sind die mal einfach nur Kinder?“

Ich: „Klar liebe ich die Freiheiten der Kinder auf dem Land sehr! Meistens sind sie um 13 oder 14 Uhr zu Hause. Dann haben sie noch stundenlang Zeit für ihre Hobbys. Stromern herum, helfen in der Werkstatt, kümmern sich um ihre Kaninchen oder haben eigene Pferde, und egal ob sie lieber Fußball spielen, in die Jugendfeuerwehr oder in eine kirchliche Jugendgruppe vor Ort gehen – diese Angebote werden immer von einem Nachbarn oder einem Verwandten geleitet, sodass man auch in diesen Kreisen absolut nicht um sein Kind fürchten muss.“

Der Bekannte: „Sag ich ja.“

Ich: „Was ist aber, wenn dein Kind noch für etwas anderes als Fußball, Feuerwehr und CVJM geschaffen ist? Wenn es gerne eine bestimmte Tanzsportart machen will, oder Kunst, oder klassischen Gesang, oder das Zeug hätte, Theater oder Debattieren auf hohem Niveau zu machen? Oder wenn es bestimmte Noten hat oder Interessen und Kenntnisse, die kein anderer teilt, besondere Verhaltensweisen vielleicht, oder eine Behinderung. Weder für Überflieger noch für, ich sag mal, Orientierungslose gibt es hier kompetente Angebote. Man muss für Angebote, die jenseits des Üblichen liegen, schon durch den ganzen Landkreis fahren. Und dann ist man für ein einstündiges Angebot den ganzen Nachmittag auf der Straße. Dasselbe gilt übrigens auch für Arztbesuche. Vor allem bei Spezialisten.“

Der Bekannte: „Spezialisten! Völlig überbewertet. Ich lobe mir unseren Dorfarzt. Einmal hat mir am Samstagnachmittag plötzlich das Kreuz wehgetan. Ich konnte mich nicht mehr bewegen. An einem Samstagnachmittag! Aber ich hab ja von unserem Arzt die Privatnummer. Hab ich angerufen, er kam vorbei, einfach so, hat mich wieder eingerenkt. Da brauch ich keinen Spezialisten.“

Ich: „Ich freue mich über diesen Erfolg, und ich mag unseren Arzt auch. Aber denk an deine Cousine. Zweimal drohte bei ihr eine Frühgeburt. Einmal musste sie deshalb mit dem Taxi bis nach T. fahren. Und beim zweiten Mal musste ein Helikopter sie nach B. bringen. Und jetzt stell dir vor, du kommst nicht mehr aus dem Haus. Du bist alt geworden. Oder du bist – vielleicht auch schon jung – in Rente gegangen wegen eines Unfalls. Oder du bist depressiv. Du kannst dich nicht mehr fortbewegen. Du kannst keine eigenen Entscheidungen mehr treffen. Du darfst nicht mehr Auto fahren. Solche Sachen. Das renkt kein Dorfarzt wieder ein. Da bist du hier doch völlig aufgeschmissen.“

Der Bekannte: „Wenn ich einmal alt und unbeweglich bin, dann sind meine Kinder für mich da. So, wie meine Frau und ich sich jetzt schon um meine Mutter und auch meine Großmutter kümmern, mit denen wir zusammen auf demselben Grundstück leben.“

Ich: „Beneidenswert. Aber ich muss schon nachhaken: Woher nimmst du diese Sicherheit? Die allermeisten jungen Leute ziehen hier weg und in die Städte. Das kann man in jeder Statistik nachlesen. Das machen deine Tochter und dein Sohn eines Tages auch. Und ob die ihren alten Vater dann hunderte Kilometer weit weg, weit weit draußen im Wald besuchen wollen oder nicht, das entscheiden die selber!“

Der Bekannte: „Was sollten meine Tochter und mein Sohn denn später in einer Stadt wollen? Warum, bitteschön, sollten die weit weg von hier ziehen wollen?“

Ich: „Wegen der Arbeit natürlich. Ausbildung und dann arbeiten. Klar kann man hier solide Berufe erlernen und man findet in einigen Branchen auf gute Jobs. Aber die allermeisten Fachrichtungen und auch Berufszweige fehlen hier.“

Der Bekannte: „Also. Meine Kinder gehen wahrscheinlich mal auf die Realschule oder auf die Werkrealschule. Von mir aus können sie auch aufs Gymnasium. Aber in jedem Fall werden sie im Anschluss einen Beruf erlernen, den man hier in der Region gebrauchen kann. Es gibt sehr viele Möglichkeiten. Viele der Firmen bilden aus. Es kennt immer jemand jemanden, der einen Azubi braucht. Ob die dann mal als Gehilfe oder als Meister arbeiten, ob mit oder ohne Diplom, ob als Angestellter oder in ihrer eigenen Firma – egal. Hier ist alles möglich.“

Ich: „Du hast recht. Unsere Region hat einige Weltmarktführer. Hidden champions. Lehrer, Pfarrer und Bankangestellte werden händeringend gesucht. Und auch sonst, im Straßenbau, in der Forstwirtschaft: Es gibt immer was zu tun!“

Der Bekannte: „Richtig. Und weißt du, was das Gute daran ist? Wenn die Firma, in der ich arbeite, pleite geht, habe ich am nächsten Tag sofort einen neuen Job! Wer schaffen kann, der findet hier immer was.“

Ich: „Naja. Das trifft auf deine Branche vielleicht zu. Aber schau mal deine Schwägerin an. Die hat nach ihrer Ausbildung zur Erzieherin nicht ihren Traumberuf in einem Kindergarten gefunden. Und warum nicht? Es gibt einfach zu wenig nachwachsende Familien. Ich erinnere: Erst hat fast unser Kindergarten geschlossen, dann hat unsere Grundschule dichtgemacht, nachdem es nur noch 20 Schüler gab. Es gibt einen starken Geburtenknick. Weil die Erwachsenen unserer Generation alle weggezogen sind. Wir sind vor dreieinhalb Jahren hierher gezogen. Seither gab es hier zwar die eine oder andere Hochzeit, den ein oder anderen Häuslebau und den ein oder anderen Nachwuchs in der Nachbarschaft. Aber: nach uns ist keine einzige andere Familie mit Kindern von weiter weg mehr hierhergezogen. Wir waren die letzten. Das muss doch einen Grund haben.“

Der Bekannte: „Das mit dem Geburtenknick liegt doch daran, dass keiner mehr Kinder bekommen will. Das ist die Emanzipation, die sich auch hier ausgebreitet hat. Welche Frau will denn heute noch mehr als zwei, drei Kinder bekommen? Dazu sind doch alle zu bequem geworden. Aber gleichzeitig wollen alle Mädchen nach der Realschule Erzieherin werden. Da frage ich mich, warum. Als ob es keinen anderen Beruf für Frauen gäbe als Erzieherin im Kindergarten. Klar muss man dann auch mal Kompromisse machen.“

Ich: „Tatsache bleibt: Es gibt viele Berufe, die auf dem Land nicht oder nicht mehr so sehr benötigt werden, und für die man weit pendeln müsste. In der Stadt ist hingegen alles möglich. Es gibt jeden nur erdenklichen Studiengang, es gibt dort jede Art von Job, man kann seine Nische finden. Man kann was werden, was auch sich machen. Man kann auch versuchen, aus seinem Hobby etwas zu machen. Auch in Branchen, die uns beiden völlig unbekannt sind. Man hat auch die Freiheit, zeitweise mal wenig verdienen, prekär zu leben. Denn in der Stadt kannst du dein Leben unbeobachtet von den lieben Nachbarn und  ungeachtet der Kritik deiner lieben Verwandten so führen, wie du es möchtest. Oder wie du denkst, dass es gerade angesagt ist.“

Der Bekannnte: „Wie nett, die vielgerühmte Anonymität der Großstadt! Jedem Trend hinterherrennen. Und nicht arbeiten wollen. Das fängt bei denen doch schon im Studium an.  Ich will mal einen von diesen Langzeitstudenten sehen, dem ich – nur zum Beispiel – ein Brett in die Hand gebe und ihm sage: Zersäg das mal in der Mitte. Das würden die im Leben nicht hinbekommen! Ich will nicht, dass meine Kinder so enden. Das wäre für mich das Traurigste, wenn meine Kinder sich totstudieren und ihr Leben vergeuden und zwielichtige Freunde haben. Und nur noch dann anrufen, wenn sie Geld brauchen. Die sollen lieber hier auf dem Land bleiben und was werden.“

Ich: „Ich habe lange studiert. Zugegeben, heute würde ich wahrscheinlich ein anderes Fach studieren als Literaturwissenschaft. Aber ich habe in dieser Zeit einiges über mich gelernt. Unter anderem, dass ich mich nicht für immer an eine einzige Firma, einen einzigen Hof, einen einzigen Landstrich binden will… naja, ich sagte ja, ich will viel lieber in der Stadt leben. In der Stadt geht man auf die Straße, und es ist sofort was los.“

Ich platze mitten hinein

Wenn ich mich ins Auto setze und nach zwei Stunden Fahrt in meiner ehemaligen Welt wieder auftauche, ist zwar vieles unwirklicher, ungreifbarer geworden. Ich wundere mich dann darüber, wie viele Kinder es gibt. Die, die keins hatten, haben nun eins, die die eins hatten, haben nun zwei, und so fort. Ich hab keine Ahnung zumeist, wie die Kinder heißen. Die sind alle klein und laufen so kreuz und quer.

Auch die Realität der Erwachsenen ist schwammig geworden. Ich bekomme sie nicht mehr haargenau mit, die Jobwechsel und die Geldsorgen, die Urlaubspläne und Partyvorbereitungen.

Ich platze nach zwei Stunden Fahrt mitten in etwas hinein und muss erstmal aufs Klo, anstatt vorher schon mitgefiebert oder mitgeplant zu haben. Ich stehe einfach nur da, während die anderen schnelle Entscheidungen treffen, kochen, auftischen, herumwerkeln, losmüssen, wiederkommen. Das lässt mich ein bisschen langsam wirken. Vielleicht bin ich aber sowieso langsamer geworden.

Aber etwas ist gleich geblieben: Ich kann reden. Mit vielen. Über sehr Unterschiedliches. Zu allen Gesprächen bleibt mir ein Bild im Kopf zurück, das mir diesen Gesprächspartner in seiner Welt zeigt und der sich sofort untrennbar mit dem Namen dieses Menschen verknüpft, selbst wenn ich diesen Menschen auf meinem Besuch bei Freunden gerade erst kennengelernt habe.

„Ich bin so ein Barista-Typ“, sagt mir eine junge Frau mit dem Namen S., und obwohl ich noch nie in dem Café war, in dem sie bedient, denn es hat nach meiner Zeit aufgemacht, kann ich mir (vielleicht dank den Instagram-Bildern meiner Freunde) vorstellen, wie sie dort steht. Ihren Namen und ihr Gesicht vergesse ich nicht.

„Meine Eltern haben viele Kinder in die Welt gesetzt“, erzählt mir jemand namens A., den ich ebenfalls noch nie zuvor gesehen habe, aber mir sagt der Name seines Stadtteils was, und wie seine Eltern auf der Etage eines Hochhauses drei Wohnungen zu einer zusammengelegt haben, kann ich mir lebhaft vorstellen. Auch diesen Menschen vergesse ich nicht.

Manche erzählen mir, was ihre Airbnb-Vermietungen so machen. Andere sind sehr müde, weil sie gerade um den halben Erdball geflogen sind oder die ganze Nacht lang gebacken oder genetflixt haben. Aber egal, wie der Status gerade ist, wir verknüpfen die losen Fäden sofort wieder zu einem Gespräch, das dort weitergeht, wo es vor einigen Monaten, beim letzten Besuch, oder zwischen Facebook und Instagram, verlorenging.

Schwierig wird es eigentlich nur mit den ganz wenigen Menschen, die mir sehr, wirklich sehr viel bedeuten. Stehen wir plötzlich voreinander, nach Monaten der Funkstille (es gibt zwar Facebook, Twitter, WhatsApp, aber was die da schreiben, bleibt dennoch immer seltsam entfernt), fällt mir nicht ein, an was ich anknüpfen könnte. Und ich merke, diesen Menschen geht es ebenso – ich weiß aber nicht, ob das an meiner Unsicherheit liegt, die sich auf sie überträgt, oder ob sie vielleicht zuerst unsicher waren, bevor ich es wurde, oder ob es etwas Allgemeineres ist.

Zu viel steht zwischen uns. Zu viel des „was machst du jetzt, wie geht es dir jetzt“, was man aber lieber nicht fragen möchte, da es, egal wie man fragt, immer zu abgedroschen klingt. Und man will es doch in den wenigen Minuten, die man sich sieht, schön zusammen haben. Man will die Freundschaft feiern, den Augenblick, und nicht die Statistik zwischen dem letzten und dem heutigen Treffen akribisch aufarbeiten. Es muss ästhetisch werden, Ästhetik und gestillte Sehnsucht und Aha-Momente um jeden Preis.

Dann hilft nur Alkohol, um so etwas wie zu den alten Zeiten zurückkehren zu können. Zu den Zeiten, in denen wir gemeinsam lachten, weinten, stritten, arbeiteten, beteten und faulenzten und Quatsch-Videos guckten.

Manchmal wünsche ich mir, diese Freundschaft(en) nicht mehr immer wieder neu einfädeln und halten, überdenken und stilisieren, überwachen und weglachen, heimlich überhöhen, öffentlich aber als selbstverständlich darstellen zu müssen. Ich möchte die Dinge nicht mehr in der Hand haben. Ich will, dass jemand anderes den Roman schreibt, in dem ich nur vorkomme. Egal, was mit mir passiert. Egal.

Stillen im Café oder: Hipster 2.0

Neulich bin ich in meinem derzeitigen Lieblingscafé gewesen und es ist noch mehr zu meinem Lieblingscafé geworden.

Aber der Reihe nach.

Wir, die Eltern, atmen gerade ein wenig arbeitsfreiere Luft. Wir gehen jetzt manchmal mitten in der Woche schwimmen. Oder wir setzen uns früh um halb 9 ins unser Lieblingscafé mitten im Dorfkern, oder heißt das politisch korrekter Ortskern. Wir sind um diese Uhrzeit die einzigen. Alle anderen schaffen, ob auf der Arbeit oder in Haus und Hof. Und alle jungen Mütter, die mit Baby unterwegs sind, scheinen lieber spazierenzugehen.

Wir stellen unseren Fahrradanhänger mit Baby drin in den Schatten und bestellen frisch gebackene Dinkelbrötchen, selbst gemachte Brombeermarmelade und ein frisches Stück Marmorkuchen (die Rezepte gibt’s hier). Das Mehl wird vor Ort gemahlen. Neben unserem Platz an der Sonne rauscht das Wasser für den Mühlenantrieb. Die Limonade, verfügbar in allen schrägen Geschmacksrichtungen, auch Cola, wird ganz lokal im Nachbartal hergestellt.

Unsere Hipsterherzen sind also befriedigt und wir finden alles schon genauso gut wie in der Stadt. Aber dann finden wir es hier auf einmal noch viel besser!

Das liegt daran, dass die Bedienung, eine Großmutter mit Brille, Charme und Schürze, von unserem Baby wie magisch angezogen ist. Zusammen mit ihrer Kollegin versucht sie, das Alter des Babys zu erraten und liegt gleich richtig. Als das Baby gestillt wird, erhalten wir ein strahlendes Lächeln: „Die Kleine muss ja auch satt werden!“. Und selbstverständlich passen beide Servicekräfte auch mal kurz auf das Baby im Anhänger auf, während die Eltern weg sind, und halten es solange bei bester Laune.

Das muss das neue hipster sein.

Friday Fives. Gedanken am Ende der Woche

Was hier so hübsch aussieht, war eine halbe Stunde später schon Müll

Was hier so hübsch aussieht, war eine halbe Stunde später schon Müll

Friday Fives am Samstag. Oder:

Fünf Dinge, für die ich diese Woche dankbar bin.

  1. Der Kindergeburtstag.
    Eine Woche nach der Einschulung gleich Geburtstag, da kam eine Menge an Materialien zusammen, die sich nun entweder im Kinderzimmer oder im neu eingeweihten Legozimmer türmen oder in Form zerrissenen Papiers in die Papiertonne wanderten. Dankbar bin ich für die Runde aus insgesamt 5 Mädels, die ich noch nicht alle gut kannte, die sich aber als so harmonisch herausstellte, dass ich mich streckenweise fragte, ob irgendetwas nicht in Ordnung ist.
    Keiner rutschte beim Essen unter den Tisch, es wurde nicht einmal laut geredet. Alle aßen eine annehmbare Menge und fast alle machten ihre Teller leer. Keiner sagte, ihm sei langweilig. Keiner wollte mit der Deko spielen. Es gab keinen Tumult im Kinderzimmer, nur mit einem leisen „Pssst, wir machen hier was Geheimes!“ wurden die Erwachsenen des Zimmers verwiesen. Das „Geheime“ war das Anfertigen von Schatzkarten, von denen ich hinterher sogar eine geschenkt bekam. Und: Nicht der leiseste Streit der Gäste um ihre Geschenke, die sie bei der Schatzsuche fanden, auch wenn die Playmobilfiguren willkürlich zugeordnet wurden und ich vorschlug, wem seine nicht gefällt, dürfe tauschen.
    Achja, Vorlagen für die Flaggen auf Cupcakes und Kuchen gibts hier. Ich bastele sonst nie was zum Geburtstag, müsst ihr wissen.
  2. Unsere Kinder schlafen in Betten. Jede Nacht in demselben. Naja, fast. Wenn wir mal draußen schlafen, dann nur zur Gaudi und nur bei zweistelligen Temperaturen. Diese Kinder hier nicht.
  3. Ich war für 2 Tage in der Stadt, in der ich 18 Jahre gelebt habe.
    Ich fahre Straßenbahn und sehe aus dem Fenster und ich sehe nicht nur das, was da vorbeifährt, sondern ich sehe alles, alle Menschen, zu allen Zeiten. Sehr großes Heimweh. Aber auch das Gefühl gibt es nicht ohne Dankbarkeit für eine zwar vergangene, aber sehr reiche, bunte und offene Zeit.
  4. Die Sonne scheint die ganze Woche. Der Himmel ist so blau, dass es weh tut. Letzte Gelegenheit, Pflanzen umzutopfen. Ich bin froh, dass ich das geschafft habe. Auch wenn mir die Sonne eigentlich fast zu hell dazu war und ich dabei die ganze Zeit dem Baby hinterherfegen musste.
  5. Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen. Wie auch immer dieser Spruch zu interpretieren ist: Ich bin dankbar, dass ich diese Woche mein „Dorf“ um mich hatte, das sich um meine Kinder gekümmert hat. Ob Vater, Nachbarn, Großeltern, Tante: Wenn das mein „Dorf“ ist, dann war es zumindest diese Woche sehr präsent. Die Kinder haben es geliebt und ich wünsche mir solche Freiräume öfter, wäre da nicht auch immer die Furcht, anderen auf den Wecker zu fallen. Dumm, oder. Kennt ihr das?

Mehr Friday Fives gibt es bei Buntraum.