Auf Durchfahrt wohin

Bahnhöfe nach zwei Jahren Pandemie sind langsam und leise.

Die wenigen Leute bewegen sich mit Bedacht. Durch meine Maske kann ich sie nicht hören, auch wenn meine Ohren frei sind.

Die Rolltreppen fahren leer im Schritttempo auf und ab. Es ist noch nicht 23 Uhr.

Der Coffeeshop ist dunkel. Alle Bäckereien sind dunkel. Der McDonalds ist mit Pappe verrammelt. Die elektronische Fahrtanzeige ist blankgefegt, aber nicht wegen Corona, sondern wegen einer Störung.

Es stört keinen, alle schlagen ihren weiteren Reiseverlauf in ihren Handys nach. Oder sie schreiben Liebesbriefe. Oder sie zählen ihre Schritte. Oder sie lesen: Bring Butter mit. Oder sie informieren sich über den nahen Krieg.

Auch wenn es uns diesmal nicht direkt treffen wird:

Sperrstunde kennen wir. Demonstrations- und Versammlungsverbote kennen wir. Denunziation durch die Nachbarn kennen wir. Schlange stehen kennen wir. Von der Polizei aufgeschrieben werden kennen wir. Wir kennen zwar keine Bunker, waren nie auf der Flucht, aber auf Realitätsflucht waren wir. Falschnachrichten aussortieren können wir mittlerweile auch. Mit mäßigem Erfolg.

Ich habe am Bahnhof eine halbe Stunde Zeit und suche so etwas wie einen Sitzplatz oder einen Kaffeetisch. Ein Stehtisch würde mir reichen.

Bänke sind gerade nicht in Mode.

Das einzig Einladende sind überdimensionale Bildschirme, auf denen Geckos in Zeitlupe zu sehen sind und langsam steigende Ballons. Kaufanreiz für Flugreisen und Datenpakete, gleichzeitig verordnete Nervenberuhigung. Am Ende der Mall strömt doch noch Licht aus einem Laden. Dorthin!

Aber es ist eine Coronateststation.

In den Regeln steht: Vermeiden Sie Treffen mit nicht unbedingt notwendigen Kontakten. Aber alle Kontakte sind unbedingt notwendig.

Wohin kann man noch gehen?

Ich kann nicht zu meinen Nachbarn, weil sie in Quarantäne sind. Ich kann nicht zu meinen Eltern, weil sie nicht unbedingt notwendige Treffen vermeiden wollen. Zu mir kommt auch kaum jemand, weil ich Hochrisiko bin.

Krebs in der Pandemie ist wie nachts durch einen Tunnel zu fahren.

Vor den Fenstern ist es dunkel, und ich weiß nicht, ob ich gerade in dem Tunnel bin oder nicht. Es spielt auch gar keine Rolle. Im Zug selbst ist Beleuchtung und wackeliger Datenempfang, es wird Spiel, Spaß und Ablenkung gereicht. Das reicht mir. Ich muss nur durchkommen. Durchhalten, lautet die Parole, und darin war ich schon immer gut. Ich muss ja auch nicht Pripjat gegen Ukrainer oder Russen verteidigen, eine Aussicht, die für meinen Freund aus Belarus jeden Tag Realität werden könnte.

Je länger die Dunkelheit vor den Fenstern andauert, umso mehr fürchte ich die Helligkeit. Irgendwann wird es wieder hell werden, sicherlich. Das sagt alle Erfahrung. Aber ob zuerst der Tunnel vorbei ist oder zuerst die Sonne aufgeht oder zuerst der Nebel abzieht, und wie man sich dann zu verhalten hat, vermag niemand zu sagen.

Es ist nicht immer einfach. Ich muss nur geduldig und tapfer sein.

Das ist das Minimum, das ich zur Situation beitragen kann. Zur Coronasituation. Zur Chemosituation. Zur Kriegssituation. Wir haben gelernt: Brot backen, ein Beet anlegen, auf dem Balkon singen hilft nicht. Niemand kann zwei Jahre lang brotbackend und beetanlegend balkonsingen.

Wir haben gelernt: Die Impfungen helfen nicht. Auch wenn wir uns das tapfer immer wieder sagen: eine Impfung, die alle drei Monate aufgefrischt werden muss und dennoch vor einer Infektion nicht schützt, ist eine Fakeimpfung.

Alle sind jetzt dreifach geimpft und haben trotzdem Corona. Nicht mal die Tests zeigen die Wahrheit: Leute mit Corona sind negativ, Leute ohne Corona sind positiv. Falschnegativ und falschpositiv. Falschnachrichten sind Fakenews. Weil der letzte Kampf der der Worte ist, senden amerikanische sowie russische Sender seit Jahren News gegen Fakenews, die selber Fakenews sind.

Wohin kann man noch gehen?

Wem noch glauben? Ämter, Ärzte und Apotheken sind vertrauenswürdig. Sie haben großen Andrang und sind rund um die Uhr geöffnet. Die Angestellten arbeiten im Schichtbetrieb. Sie schlafen dort ggf. auch. Das dürfen sie, weil sie auf systemrelevantem Boden arbeiten. Der Boden wird geschützt von einer Desinfektionsmittelschranke und gelangweiltem Security-Personal. Das Personal fragt: Kann ich Ihren Nachweis sehen.

Auch die Kontrolleure in der Bahn fragen: Kann ich Ihren Nachweis sehen.

Nein, sie sagen gar nichts. Sie stehen wortlos vor mir und formulieren nichts. „Fahrkarte oder Impfpass?“ frage ich und suche in meiner Tasche nach meinem Handy. Auf meinem Handy ist alles: Fahrnachweis, Impfnachweis. Auch Kaufnachweis, Suchtnachweis, Bewegungsnachweis und Nachweis aller 543 unbedingt notwendiger Kontakte. Mein Handy ist an. Also lebe ich. Ich reiche es den gelangweilten Kontrolleuren. Mein Leben ist in ihrer Hand.

Postpandemische Überlegungen

Es ist zu arbeiten, aber erst ist das Kind in die Kita zu bringen.

Es ist das Kind in die Kita zu bringen aber erst ist das Kind zu testen. Das Kind will krank sein.

Es ist zu arbeiten aber erst ist ein Testzelt aufzusuchen.

Es ist zu arbeiten, aber erst ist zur Arbeit zu fahren.

Es ist zu arbeiten, aber erst muss noch ein Zugticket gekauft werden. Und ein Pausenbrot. Und Kaffee.

Es ist zu arbeiten, aber erst muss ein Gespräch darüber erfolgen, wie man noch besser arbeiten kann.

Es ist zu arbeiten, aber L. möchte sich treffen.

L. ist zu treffen aber es ist schon spät geworden also ist jetzt das Kind abzuholen.

Wäsche ist aufzuhängen und Geschirr einzuräumen. In der Pandemie haben die Kinder das mittags nach dem Homeschooling gemacht. Jetzt macht es niemand.

Es ist Pause zu machen aber erst müssen die Kindergeburtstagseinladungen verschickt werden.

Es sind Einladungen zu verschicken aber erst sind Einladungen zu basteln.

Es sind Einladungen zu basteln, aber erst muss der Kalender geupdatet werden. Ich kann nicht: wenn andere Termine sind, wenn Fahrt zur Kita ist, wenn ich selbst unterwegs bin, wenn ich schlafe. Ich kann: zu allen anderen Zeiten.

Es sind Kinder frühzeitig ins Bett zu bringen aber erst sind Pausenbrote wegzuwerfen.

Es sind Pausenbrote wegzuwerfen und dabei wird gestritten, wer am Wochenende das Grillgut mitbringt und wer wo übernachten darf.

Es ist zu schlafen aber erst sind alle nichtpflichtigen Termine wieder abzusagen.

Ich lösche aus dem Kalender: Sommerfest, Elternabend, Theaterbesuch, Spielplatzverabredung, Gemeindepicknick, Mittagessen mit L…. und bin trotzdem noch nicht Herrin der Zeit, weil ich den Wecker wieder auf halb sieben stellen muss.

Zugfahren mit großen Kindern. Aufzeichnungen einer sehr müden Mutter

Die Woche verspricht schlechtes Wetter. Perfekt um zu arbeiten. Passend dazu liegt genug auf meinem Schreibtisch, was wegtelefoniert, weggeschrieben und wegorganisiert werden will.

Aber die Kinder haben Pfingstferien. Und zum ersten Mal seit neun Monaten wäre ein Urlaub bei den Großeltern legal. Wir müssen also los. Arbeiten kann ich ja noch im Zug. Oder später woanders.

Ich habe Tickets für den ICE gekauft, Laptop, Ladekabel, Handy und Headset eingepackt und den Kindern eingeschärft: „Nehmt alle eure Geräte mit! Mit den Ladegeräten! Und den Kopfhörern!“ Durch die neun trüben Monate bin ich gestählt. Mediengestählt. Gerätebewaffnet. Mir kann keiner was in Sachen Kinderbetreuung. Es muss nur Strom und einen Bildschirm haben.

Im Zug holt die Große (die nicht mehr so aussieht, als dürfe man wegen ihr ein Familienabteil buchen) sofort ihr Smartphone heraus. Lieblings-Apps sind YouTube und Spotify. Sie setzt die Kopfhörer auf und lacht. „Hör dir das mal an!“ Sie reicht die Kopfhörer ihrem Bruder, der mit zahlreichen Zahnlücken zufrieden dasitzt und aus dem Fenster schaut. Er darf drei Sekunden reinhören, bevor die Große die Kopfhörer wieder in ihren Besitz nimmt.

Ihrem Bruder schlage ich vor, dass er mir ein Buch vorliest. Eins, was er gestern im Buchladen bekommen hat. Daher bekommt die Jüngste mein Handy mit Ohrstöpseln. Eine Folge Andersens Märchen von Audible (Werbung).

„Lies weiter“, sagt der Sohn, der nach drei Seiten nicht mehr selbst lesen will. „Gibt’s hier Internet?“ will die Große wissen, die bisher nur downgeloadete Musik gehört hat.

Die Große und ich checken das ICE-WLAN aus, was uns eine ganze Weile beschäftigt.

Die beiden Kleinen wollen jetzt was malen. Natürlich habe ich Papier und Stifte vergessen. Ich schlage mir an den Kopf. Wie dumm von mir. Es gibt doch auch noch andere Ablenkungen als Stromgeräte! Aber überraschenderweise haben sie haben alles selbst eingepackt. Glückliche müde Mutter, die große Kinder hat.

Zwei Kinder malen, das dritte hört Musik. Ich atme auf. Vielleicht mal was bloggen? Aber dazu müsste ich erstmal den Laptop auspacken. Das ist zu auffällig und damit ziehe ich dann wieder die Aufmerksamkeit meiner Kinder auf mich. Die hören dann sofort auf mit dem, was sie gerade machen und wollen in meinen Laptop hineinkriechen, dort im Prinzip wohnen. Ich beantworte also lieber unauffällig ein paar Nachrichten auf meinem Handy.

„Ich habe meinen Anspitzer vergessen!“ heult die Jüngste.

„Nimm doch den von deinem Bruder.“ Das war kurz vor Eskalation.

Ich will einen Kaffee, aber es kommt keiner. Ich blättere also wenig gespannt im Bahn-Magazin. Hinterfrage deren Lösung der gendergerechten Sprache. Klar, Konsequenz muss sein. Aber doch nicht ein Satz mit sechsmal :innen?

Jüngste quengelt. Ich gebe dem Sohn mein Handy (er darf die Märchen weiterhören) und gehe mit ihr durch den Zug. Sie findet alles prima. Auch die Kinderfahrkarte und das Spielzeug, das sie geschenkt bekommt. Für ihren Bruder darf sie ebenfalls ein Geschenk mitnehmen. Damit werden sie sich eine Weile beschäftigen, nehme ich an.

Pustekuchen, sie schauen sich den Plastikkram nicht mal an. Ein mitreisendes Kleinkind macht kurzen Prozess und fegt Spielzeug und Malzeug vom Tisch. „Ich lese dir was vor“, sage ich schnell, damit die Jüngste nicht lauthals protestiert. Wir räumen die Malsachen weg und holen ihr Vorlese-Buch heraus. Es geht um Ferien im vielbesungenen Saltkrokan.

Ich lese den Astrid-Lindgren-Sprech vor, den meine Kinder manchmal mögen, manchmal aber auch überhaupt nicht. Meine Jüngste hört eine Weile zu.

„Darf ich spielen?“ fragt die Große. Ich nicke und in selbiger Sekunde wird ein Lego-Game geöffnet. „Lass deinen Bruder bitte zusehen“, sage ich. „Und stell den Sound bitte gaaaaanz leise.“ Zwei Köpfe beugen sich über das Handy.

Irgendwann bin ich zu müde zum Vorlesen und ich finde, dass die Große auch mal eine Handypause einlegen kann. Sie nimmt sich ein Buch, was von Fledermäusen und Unterwelt handelt. Ich schiele zu meiner Bahnzeitschrift (das mit dem Laptop kann ich sowieso vergessen) und frage die beiden Kleinen:

„Wollt ihr ein neues Spiel spielen? Ich habe euch zu Hause eines downgeloadet!“

Stellt sich heraus, dass das eine Kurzschlusshandlung war. Das Spiel (eine Katze durch lustige Programmier-Bausteine zum Laufen zu bringen plus etliche weitere Features) ist schwer zu durchschauen und von der Grafik her viel zu winzig.

Trotzdem nehmen sie es eine Weile damit auf. Solange versuche ich mich wieder in die Bahn-PR zu vertiefen.

Irgendwann streckt sich die Jüngste aus und schläft ein Weilchen. Wie auf Knopfdruck fallen auch mir die Augen zu, und hätte uns nicht ihr Bruder angestupst, wir hätten unseren Ausstieg verpasst…

Am nächsten Morgen saßen Oma und Jüngste eng aneinandergeschmiegt im Strandkorb und Oma las vor. Die Jüngste wollte „Das hässliche Entlein“ nochmal hören, das sie auf der Zugfahrt mit meinem Handy gehört hatte. Die Oma hatte ein Märchenbuch. Und Kakao. Und Russisch Brot. Die Mama hatte einen Mittagsschlaf. Einen sehr langen. Bis sie nicht mehr müde war. Und als am Abend die Fledermäuse aus ihren Baumhöhlen kamen, erzählten wir uns am Lagerfeuer Geschichten bis es dunkel wurde.

At home im Januar

Wenn man ins Büro kommt, macht man sich auf dem Weg dorthin so seine Gedanken.

Wie werde ich heute performen. Gibt es Widerstände. Will Frau Zankapfel auch heute wieder mit jedem Streit. Will Herr Missverständnis mich wieder um jeden Preis missverstehen. Will der Drucker wieder das Papier nicht hergeben, der Postbote den Eingang nicht finden und muss das Fenster wieder auf Kipp stehen, obwohl ich dann so friere. Oder wird es ein schöner Tag, mit Sonne, Kuchen, schnellem WLAN, neuen Aufgaben und lächelnden Kollegen?

Damit vieles von dem Guten und weniges von dem Schlechten eintritt, legt man sich so seine Strategien zurecht. Frau Zankapfel wird man einfach aus dem Weg gehen, um minimale Angriffsfläche zu bieten. Herrn Missverständnis wird man zum Mittagessen einladen, um ein paar Themen jenseits der Verständnisfallen aufgreifen zu können. Den Kuchen kann man selbst noch auf dem Weg vom Bäcker mitbringen. Man könnte vielleicht sogar Frau Zankapfel ein Stück Kuchen…

Wenn man ins Homeoffice kommt

Wenn man ins Homeoffice kommt, ist der Weg dorthin ebenso von Gedanken begleitet. Werde ich es schaffen, das schimpfende Kind zum Anziehen zu bewegen, bevor die Videokonferenz beginnt? Wer aus der Belegschaft wird heute einkaufen, Geschirrspülen und die Wäsche aufhängen? Ganz sicher gibt es auch heute wieder Missverständnisse und weitergeschobene Aufgaben.

Und ebenso sicher schnappen wir uns wieder gegenseitig die Bandbreite weg, weil das hier eigentlich gar kein Büro und keine Schule ist und die Ausstattung nur für private Zwecke ausreicht. Wer zuerst drin ist, bekommt das beste Bild. Die anderen müssen nehmen, was übrigbleibt. Kann ich mich in einer Konferenzpause einfach hinlegen oder ist das ein schlechtes Vorbild für die anwesenden Homeschooler? Dürfen die in ihren Pausen eigentlich einfach Lego spielen? Was ist eigentlich aus der guten alten Leibesertüchtigung zwischen den zahlreichen Bildschirmzeiten geworden, da gab es doch mal was von ALBA BERLIN?

Der hohe Anspruch an meine Zeit im Homeoffice – Zeit für mich, meine Arbeit, meine Geräte und mein WLAN – ist an die Realität angepasst worden. In der Realität gleicht das Homeofficehomeschooling-Ding einem Großraumbüro mit angrenzendem Restaurantbetrieb mit integriertem Waschsalon und einem Kegelclub mit offenstehender Tür. Natürlich kommen die Kinder und wollen Ausmalbilder, wenn man gerade nicht abgelenkt werden will. Aber die Kollegen kommen ja auch immer dann, wenn es gerade nicht passt. Natürlich gibt es Fragen der Zuständigkeit bei der Sauberkeit und Versorgung, aber es fehlen ja auch Kaffeemaschine, Hausmeister und Putzfrau. Dafür kann ich mich nach dem Frühstück aufs Sofa setzen, einfach so. Oder die Mittagspause ausdehnen, ohne dass es jemanden interessiert. Natürlich häufen sich Fragen wie „Wo ist das Ladekabel“, „Ich brauch jetzt den Laptop mit Word drauf“ und „Ich weiß nicht wie das geht und ich will es auch nicht wissen“. Im Großen und Ganzen ist jede Anfrage der Belegschaft innerhalb von Minuten geklärt. Im Gegensatz zu so mancher Endlosschleife, die eine Frage im Büro produzieren kann.

Nach einer Woche Homeofficehomeschooling ist jedenfalls eine klar: Ich mag meine neuen Mitarbeiter. Sie wollen ab und zu etwas haben, aber sie haben keine unerfüllbaren Wünsche wie „jetzt rausgehen“ oder „anderes Spielzeug“ oder „unbedingt Leute treffen“. Im Gegenzug honorieren sie es, wenn wir sie nicht mit unpassenden Aufforderungen wie „geht jetzt eine Stunde an die frische Luft“ oder „putzt jetzt das Bad, während wir hier am Bildschirm hängen“ in ihrem Flow stören. Und damit es noch stärker flowt, gibt es jeden Tag Leibspeisen, Livestreams und andere Lustbarkeiten. Die Belegschaft muss ja mitziehen, damit sie nicht innerlich emigriert.

Jetzt ist Freitag. Feierabend. Die Kollegen wollen noch einen draufmachen. Das ist auch ok, denn wir müssen wir am Morgen nicht mehr so früh aufstehen. Das können sie gut, denn sie sind immer witzig, schlagfertig und für allen Scheiß zu haben. Ich werde sie vermissen, wenn die Schule wieder anfängt.

Meine Kinder stehen nicht im Lebenslauf

Kinder im Lebenslauf erwähnen, ja oder nein? Das fragt sich jede Frau, die ins Berufsleben starten will und schon Kinder hat. Das fragt sich auch Severine vom Blog „Mama on the Rocks“, und ruft zur Teilnahme an einer Blogparade auf. Wer über dasselbe Thema schreiben und bei Severine verlinken möchte: Nur zu!

Das Arbeitsamt will, dass wir uns lückenlos präsentieren.

Das Arbeitsamt will easy Klienten, eine positive Statistik und nicht nur die Schwervermittelbaren. Das Arbeitsamt hasst Lücken. Schon als Teenager wird uns daher eingebleut: Produziert in eurem Leben bloß keine Lücken. Denn dann braucht ihr Ausreden, um die wieder zu stopfen… Aber wir wollen euch ja auch nicht beibringen zu lügen. Ab da wird es kompliziert.

Lücken sind Sachen, die Spaß machen oder nur uns privat etwas angehen. Lücken hätten aber rückwirkend nicht passieren dürfen, jedenfalls nicht, wenn wir irgendwann auch mal Geld verdienen wollen.

Die folgenden Beschreibungen sind fiktiv, können aber durchaus so passiert sein: Drei Monate Urlaubsreise nach Bali: Lücke. Ein Jahr bei den Eltern wohnen, weil das Studium nicht mehr zusagt und wir nicht wissen wohin: Lücke. Sex mit dem Richtigen, Schwangerschaft und Nestbau: Lücke.

Wie vermeiden wir Lücken im Alltag? – Ein paar Beispiele

Die lückenbesorgte Urlauberin beugt vor, indem sie mit einem Programm nach Bali reist. Sie wird dort in ihrem Hostel nicht nur schlafen, sondern natürlich auch an der Bar arbeiten. Sie wird nicht nur private Urlaubsbekanntschaften schließen, sondern ihr Netzwerk erweitern. Das Jahr bei den Eltern wird selbstverständlich mit einer Immatrikulation in einen unproblematischen Studiengang kaschiert, das nur fünf Leute studieren und wo man selbst nie hingeht,  z.B. Religionswissenschaften. Und Schwangerschaft und Kinder? Hier zögern viele. Und schreiben dann nicht nur: Elternzeit, Kindererziehungszeit. Sondern erwähnen ihre Kinder arbeitsamtskonform gleich im Header ihres CV: „Drei Kinder, geboren 2005, 2009, 2012, in Betreuung.“

Für wen schließen wir die Lücken?

Jetzt wollen wir mal darüber nachdenken, für wen wir die Lücken schließen sollen. Ist es wirklich für uns? Damit wir uns besser fühlen und glaubwürdiger, sinnerfüllter und innerlich geläutert durchs Leben gehen? Nein, wir schließen die Lücken für einen fiktiven Chef eines fiktiven Unternehmens, wo wir uns gegebenenfalls bewerben. Wenn das Arbeitsamt eine solche Stellenausschreibung für uns raussucht und die nicht völlig bescheuert ist, machen wir das auch. Wir seufzen und öffnen die Datei lebenslauf_version28347.docx und lesen wieder und wieder unseren Header: „Geboren dann und dann. Verheiratet. Drei Kinder.“

So war es auch bei mir. Dass meine Kinder groß obendrauf auf dem Lebenslauf prangten, machte mich sicherer. „Dann muss ich das Kinderthema nicht erst im Vorstellungsgespräch ansprechen.“ Dachte ich. Als ich mich einmal bei einem Volontariat in Berlin bewarb, saß ich stundenlang vor meinem CV, bis da so etwas stand wie:

„Eine Tocher, 5 Monate, zum Zeitpunkt der Arbeitsaufnahme vorauss. 9 Monate alt, wird zu diesem Zeitpunkt ganz, ganz sicher, das verspreche ich, einen Kitaplatz haben, was denn sonst!!!!“

Wie unschwer zu erahnen, wurde ich nicht eingeladen. Hier war guter Rat teuer.

Lohnt sich eine freiberufliche Tätigkeit?

Zu mir als Geisteswissenschaftlerin, die außer mehreren Sprachen nur schreiben und Computer kann, kam der Rat in Form des Freiberuflertums. Freiberufler sein, das gilt für das Arbeitsamt (und für die eigenen Eltern und die Uniprofs sowieso) als Falle. Solltet ihr euch dafür entscheiden, Freiberufler zu werden, wird der Aufschrei nicht ausbleiben: DIE FIRMEN NUTZEN DICH NUR AUS!!! DU WIRST NIE FERIEN HABEN!!! DU DARFST NIE KRANK SEIN!!! DU ARBEITEST 24/7 OHNE WOCHENEND- UND NACHTZUSCHLAG. DU BEKOMMST DEIN GELD NIE RECHTZEITIG UND ES WIRD SICH IMMER JEMAND FINDEN DER ES BILLIGER MACHT!!!

Klar, das alles kann passieren. Und es wird auch passieren. Aber mal ehrlich: Hast du als Mutter/ Eltern denn überhaupt jemals frei? Gibt es die ersten Jahre mit Kind denn überhaupt irgendeine Minute, in der du zum Nachdenken, Ausspannen oder auch nur zum ESSEN oder SCHLAFEN kommst?

Wenn ihr überlegt, euch mit eurer Tätigkeit freiberuflich zu machen und Kinder habt, würde ich euch immer dazu raten: macht es. Einkommensausfälle (vor allem am Anfang) können durch einen Gründungszuschuss des Arbeitsamts ausgeglichen werden. Oft muss man sehr sparsam leben, keine Frage. Von Anfang an solltet ihr in beruflichen Netzwerken nach Gleichgesinnten suchen. Redet mit Frauen, die 10, 20, 30 Jahre älter sind. Ihr erfindet nämlich nicht das Rad neu. Alles hat es schonmal gegeben und davon war das meiste nicht schlecht.

Nach zehn Jahren Freiberuflertum mit mittlerweile drei Kindern kann ich sagen: Tatsächlich kommt nichts dem Elternleben so entgegen wie eine freiberufliche Tätigkeit.

Fail No1: Krank zur Arbeit gehen

Ein Beispiel aus der Welt des Angestelltentums: Wenn du angestellt bist, kannst du noch so glaubwürdig und motiviert deinen Job machen, es kommt der Tag, da ist das Kind krank. Nicht nur für einen Tag, sondern für eine Woche. Oder länger. Und danach ist das nächste Kind krank. Jeden Tag wird dein Vorgesetzter ungeduldiger, schon nach drei Tagen ist dein Aufgabengebiet an deine Kollegen vergeben, und so manche Aufgabe kommt vielleicht nicht zurück. Wenn du zwei Wochen lang (abwechselnd mit deinem Partner) deine Kinder gepflegt hast, bist du selbst krank. Aber du traust dich nicht, noch länger zu fehlen. Also pumpst du dich mit Schmerzmitteln voll und gehst trotzdem.

Fail No2: Zeitversetzt Urlaub machen

Noch ein Beispiel: Wenn deine Kinder bereits schulpflichtig sind, haben sie ungefähr 12 Wochen frei, du selbst hast aber nur 4 Wochen. Glücklich bist du, wenn du dich mit deinem (im Beispiel ebenfalls beruflich aktiven) Partner absprechen kannst. Dann schafft ihr es, zeitversetzt jeweils 4 Wochen Urlaub zu nehmen, damit die Kinderbetreuung abgedeckt ist. Fehlen noch 4 Wochen, die gut geplant und abgesteckt sein müssen: Kann das Kind zu den Großeltern gehen? Oder nimmt es am Ferienprogramm eines Vereins, einer Kirche teil? Da muss es angemeldet werden und es entstehen Kosten. Gemeinsamer Urlaub? Fehlanzeige!

Das Angestelltendasein ist für viele Menschen nichts

Ich könnte noch mehr Beispiele anfügen. Aber schon jetzt stellt sich die Frage, was am Angestelltendasein besser sein soll als am Freiberuflerdasein. Offensichtlich nämlich NICHTS. Angestellt sein (ohne Möglichkeit auf Homeoffice und flexible Arbeitszeiten) ist nicht nur nichts für Eltern, die sich um Kinder kümmern müssen. Es ist auch nichts für alle anderen Menschen in Lebenskrisen, mit chronischen Erkrankungen, mit Care-Aufgaben, die über das tägliche Abspülen und Katzefüttern hinausgehen – wie das Kümmern um behinderte, kranke oder demente Angehörige.

Zurück zur Ausgangsfrage: Sollen die Kinder im Lebenslauf erwähnt werden, ja oder nein? Hierzu werdet ihr landauf, landab verschiedene Antworten in der Ratgeberliteratur und der Rechtssprechung finden. Mein Rat lautet: Wenn es passt, ja. Wenn nicht, dann nicht.

Kinder auf der eigenen Homepage erwähnen?

Fragt euch: Würde auf eurer (fiktiven) Homepage, auf der ihr eure Skills und Arbeitskraft anpreisen würdet, stehen, dass ihr Kinder habt? Vermutlich nur, wenn das mit eurem Job in Verbindung steht. Bspw. ihr wollt als Tagesmutter arbeiten. Dann macht der Hinweis darauf, dass ihr zwei eigene kleine Kinder habt, die ihr sowieso schon betreut, durchaus Sinn. In (fast) allen anderen Fällen nicht.

Warum sollen Kinder Lückenbüßer sein?

Und fragt euch: Warum überhaupt Kinder als besondere Lebens-Herausforderung oder geniale kleine Lückenbüßer nennen, wo doch die meisten Erwachsenen in ihrem Leben irgendwann einmal mit Kindern zu tun haben? Seien es eigene, Pflege-, Adoptiv-, Paten- oder Stiefkinder, später (vielleicht auch schon früher) einmal Enkelkinder. Um Kinder muss sich gekümmert werden, und das geht bei den meisten Jobs nicht während der Arbeit. Das sollte eigentlich ein Allgemeinplatz und nichts Besonderes sein.

Das ist es aber leider nicht. Denn wir leben in einer patriarchalen und profitorientieren Welt, in der Mann als Arbeitskraft ständig zur Verfügung und abrufbereit zu stehen hat, in der es keine Krankheiten, keine privaten Sorgen und Verpflichtungen gibt. Die Heldenserien aus Kino, TV und Streaming leben es uns jeden Abend vor: der Größte ist der, der nie schläft, nie isst, immer nur soviel verliebt ist, dass er noch zu 120% zum Arbeiten kommt, und Kinder, wenn überhaupt, weit weit weg vom Job an einem sicheren Ort von einer anderen Personen aufziehen lässt.

Was ist mit anderen privaten Herausforderungen?

Fragt euch auch: Würdet ihr außer den Kindern andere private Herausforderungen, die im Vorstellungsgespräch zu Rückfragen führen würden, im Lebenslauf nennen? Beispielsweise ein arbeitsintensives Ehrenamt (das mit der Jobbeschreibung nichts zu tun hat), häufige längere Fahrten ins Ausland zur Verwandtschaft, eine demente Mutter oder Oma, für die ihr zu festen Zeiten verantwortlich seid, oder ihr habt gerade einen großen Pferdehof gepachtet, wo neben der Sorge für die Tiere erst einmal die Scheune repariert werden muss…

Meine Kinder stehen also nicht im Lebenslauf. Das heißt nicht, dass ich mich ungerne als Familienfrau präsentiere. Im Web mache ich das auf zwei getrennten Seiten. Es gibt meine Job-Homepage und es gibt mein Landfamilienblog. Viele interessiert nur eine der beiden Seiten. Wer will, kann beides lesen.

Macht mit bei der Blogparade von Mama on the Rocks!

Urlaub mit zwei Großfamilien

Berlinfamilie hat sich spontan aufgemacht gen Süden und ist für knapp zwei Wochen bei Landfamilie zu Gast.

Das heißt: sechs Kinder von 2 bis 10, vier Erwachsene von 38 bis 40. Inhaltlich geht es zwei Wochen lang um Wechselklamotten, Windeln, Homeschooling, Schlafengehmethoden, Pfannkuchen mit Apfelmus und viel, viel Kaffee.

Alles wird auf zwei Wohn-Ebenen gleichzeitig bespielt und hin- und hergezerrt: die Lego-Eisenbahn, die Stofftiere, die Carrera-Bahn, die Wachsmalkreiden, die Aufziehfrösche und die Puzzle.

Im Garten findet sich seltsames Sand-Kreide-Pulver und rätselhafte Häufchen aus Steinen und Stöcken an jeder Ecke. Es scheint, man könne das Gewirr aus Sand und Plüsch, Kreide und Plastik, Gras und Müsli nie wieder auseinanderbekommen. (Das Planschbecken haben wir in weiser Voraussicht gar nicht erst aufgestellt.)

Zwischen 6 Uhr morgens und 14 Uhr vergeht kaum eine Stunde, in der nicht in der Küche gegessen oder aufgeräumt wird. Zuerst gibt es einen Milch für die Kleinste, danach Pfannkuchen (meist nur für die zwei bis drei Frühaufsteher-Kinder). Ein Erwachsener muss zur Arbeit und isst im Stehen ein Brot. Dann kommen die Home-Schooler, und zuletzt setzen sich die urlaubenden bzw. gastgebenden Erwachsenen an den Tisch. Halb 9, Zeit für einen Kaffee und die Tagesplanung. Dabei isst die Kleinste ihr Drittfrühstück.

Gegen 11 ist die Küche fertig aufgeräumt. Wasserflaschen und Zwischen-Mahlzeiten werden gerichtet. Ein Teil der Kinder und Erwachsenen ist bereit für einen Ausflug. Ein Erwachsener darf sich jetzt aber meist erholen und die Küche in Richtung Bett oder Hängematte wieder verlassen. Wenn er oder sie nicht den Einkauf erledigen muss.

Zwischen 12:30 und 14 Uhr wird gekocht und gegessen. Dabei bin ich immer wieder erstaunt, wie gut unsere gemeinsamen zehnköpfigen Mahlzeiten funktionieren – ohne längere Absprachen oder gar genauere Planung. Es haben auch immer alle gleichzeitig Hunger und keiner mault, dass ihm nichts des Dargebotenen schmeckt.

Es gibt immer Reis oder Nudeln in rauen Mengen, dazu das Doppelte an Soße. Gemüse und Fleisch bzw. Tofu gibt es in kleineren Portionen, da keiner alles isst. So will ein Kind dreimal Lauch, eines zweimal Würstchen und ein drittes Kind will nichts davon.

Um 14 Uhr ist erstmal Küchenstillstand. Vielleicht noch ein schneller Kaffee, aber dann ziehen sich alle zurück. Die Erwachsenen schlafen (oder schreiben) unbehelligt. Die Kinder widmen sich wieder den Schauplätzen in Spielzimmer und Garten. So könnte es bis abends endlos weitergehen. Und manchmal tut es das auch.

Stressig wird es erst wieder nach 19 Uhr. Dann, wenn einige „Dursts“ und „Hungers“, die zwischendurch abgefedert werden konnten, nicht mehr so richtig kleinzukriegen sind. Jetzt gibt es entweder Brot für alle oder wir grillen was. (Manchmal sind noch weitere Freunde dabei und rollen mit den Augen ob der zehnköpfigen Riesenmaschine, die von Chaos lebt und wieder neues Chaos gebiert.)

Die Bettgehzeit zieht sich mit sechs Kindern (davon immerhin drei in Urlaub) endlos, von 20 bis 23 Uhr. Immer ist noch was. Es ist noch nicht aufgeräumt, oder die Jüngste war schon eingeschlafen und ist wieder putzmunter, oder zwei haben wieder (warum?!) Hunger, es dürfen alle noch zum abendlichen Gießen in den Garten kommen, es gibt Vorleserunde 1, Vorleserunde 2 und Vorleserunde 3, Zähneputzen dito, und um 23:30 quatschen die beiden Großen auf ihrem Matratzenlager immer noch.

Bier, Grillengezirpe, Terrasse. Gespräche über Vergangenes und Zukünftiges und über Feminismus. Großes Feriengefühl. Für zwei Stunden. Danach dann so müde…

Coronatagebuch Tag #100

Zwischendurch gab es mal die Überlegung, dass ein in jeder Hinsicht reduziertes Leben auf Dauer seinen Reiz hätte.

Weniger arbeiten, ein Grundeinkommen beziehen, die gewonnene Zeit in tägliche intensive Kinderbetreuung, Gartenarbeit und Kreativität stecken.

Weniger Menschen treffen, dafür sich selbst besser kennenlernen.

Vor allem: weniger Produktion, weniger Konsum, weniger Reisen, weniger Umweltzerstörung.

Das Virus versprach eine schöne neue Welt.

Wenn nicht die Angst gewesen wäre (und noch immer ist). Alle möglichen Ängste sind zusammengekommen und bleiben auch nach den Lockerungen: die Angst vor Ansteckung und vor Hospitalisierung, die Angst vor der Einsamkeit und der Stigmatisierung, die Angst vor einer Überhandnahme der Exekutive, die Angst vor dem (auch ganz realen) Verlust der Arbeitsstelle, aber auch die Angst vor dem Wiedereinstieg am eigentlich ungeliebten Arbeitsplatz (wahlweise ersetzbar mit der Angst vor der Schule bzw. dem Kindergarten), die Angst davor, beim Einkaufen, im Bus, auf der Straße irgendetwas falsch zu machen (umkehren, wenn man beim Brötchenholen den Mundschutz zu Hause vergessen hat, in der Gegend herumstehende Personen anmaulen, sie sollen sich richtig anstellen oder eben beiseitetreten), die Angst, Personen in der Öffentlichkeit oder auch einfach nur im Beisein Dritter zu umarmen, es könnte mittlerweile sogar ein kultureller Faupax und sehr peinlich sein.

Bei Angst klopft das Herz.

Hundert Tage Lockdown, heißt konkret: 100 Tage schul- und kindergartenfrei, wenn auch die Schule in Teilen wieder angefangen hat. In den nächsten Tagen gehen auch die letzten verbliebenen Jahrgänge wieder in die Schule. Bislang nur für zwei bis vier Stunden am Tag. Auch die Kindergärten öffnen bald wieder komplett und ohne Abstandsgebote zwischen den Kindern (Zusage von Land und Stadt kamen vor ein paar Tagen).

Hundert Tage Lockdown, das hieß für unsere Kinder: sie hatten die Zeit ihres Lebens. Zumindest wenn man die Zeit und die Anstrengung, die wir die letzten drei Monate in ihr Wohlergehen investierten, dafür als Maßstab nehmen kann. Nicht mehr früh aufstehen. Viele Spaziergänge und Wald-Abenteuer. Ein eigenes Beet anlegen und Erdbeeren, Stachelbeeren, Radieschen und Salat ernten. Feuer machen. Jeden Tag im Tipi oder im Schwimmbecken spielen, nach einiger Zeit dann auch die Freunde besuchen, sogar richtig lange und richtig oft besuchen. Und das alles sogar mitten unter der Woche.

Ich wünsche mir, dass meine Kinder ganz ohne Angst auf diese Zeit zurückblicken können. So, wie ich mit Tschernobyl 1986 keine wirklichen Ängste verbinde, eher etwas wie eine Zuschauer-Angst, ähnlich wie wenn man einen guten Gruselfilm sieht.

Coronatagebuch Tag #98

Europa ist seit dem 15. Juni wieder offen. Also fast. Außer nach Skandinavien, Großbritannien und Spanien kann man innereuropäisch reisen wohin man möchte.

Damit Sie sicher und gesund an Ihr Ziel und wieder nach Hause kommen, müssen Sie nur wenige Regeln beachten.

Sichern Sie sich rechtzeitig online ein kontingentiertes Flugticket sowie ein Badeticket für 3×3 Stunden europäischer Strand Ihrer Wahl, damit Sie Ihren Urlaub entspannt genießen können.

Reiserücktrittsversicherungen sind gerade sehr beliebt, lassen Sie sich hier von den hohen Preisen nicht abschrecken.

Im Hotel bzw. im Reisegebiet Ihrer Wahl können plötzlich Fälle gehäuft auftreten. Dafür können Sie nichts, denn Sie haben alle Regelungen befolgt. Leider hält sich nicht jeder daran. Wie Sie wissen, nimmt man es im Ausland mit Regeln häufig nicht so genau. Aber wie gesagt, nicht Ihre Schuld. Sie sind gesund und sicher unterwegs.

Installieren Sie die Corona-Warn-App des Bundesgesundheitsministeriums. So haben Sie Ihr Warnsystem immer bequem in der Tasche. Die App ist mit den meisten Warn-Apps der EU kompatibel. Somit werden Sie vor einer Infektion gewarnt, auch wenn Ihr Nachbar am Buffet aus Griechenland, Luxemburg oder Schweden stammt. Aber nicht, wenn er Franzose ist. Und vorausgesetzt, er hat wie Sie Bluetooth angestellt, sein Handy dabei und auch eine Warn-App installiert. Falls es in seinem Land eine solche App gibt.

Wenn Sie über eine Infektion in Ihrer Nähe gewarnt werden, bewahren Sie Ruhe. Es hat sich nicht bewährt, aufzuspringen und laut „Corona! Corona!“ zu rufen.

Sollten Sie selbst infiziert sein oder die Infektion bereits überstanden haben, ist keine Handlung geboten. Das Ansteckungspotenzial ist in dem Fall sehr gering.

Sollte Ihre Infektion noch ausstehen, atmen Sie einmal tief durch. Denken Sie daran, dass die Warnung gar nicht zwingend durch Ihren Nachbarn am Buffet, der Ihnen gerade so unangenehm nahekam, ausgelöst worden sein muss. Die Warnung kann genauso gut von der Person drei Meter weiter kommen. Oder von einer Putzkraft, die im Stockwerk über Ihnen gerade den Flur saugt. Die ihren Job verlieren würde, wenn sie sich krankmelden würde.

Atmen Sie also einmal tief durch und denken Sie am besten an nichts.

Denken Sie dabei aber bitte immer an das lokale Tourismusgewerbe Ihres Urlaubsortes. Das Gewerbe hat lange genug unverschuldet gelitten. Kommen Sie also gerne in unser schönes ***-Tal, oder warum soll es nicht mal ein Ausflug in das sehenswerte Städtchen *** sein? Hier werden Sie mit offenen Armen empfangen, sorry, mein Fehler, hier will man nichts von Ihnen, außer Ihr Geld. Kaufen Sie viel Schnickschnack, und nicht vergessen, zahlen Sie am besten auch die handgeschnitzte Figur des Straßenverkäufers mit Ihrer VISA. Bleiben Sie sicher und gesund – auch im Urlaub!

Denken Sie bitte auch an die Luftfahrtindustrie. Auch die Luftfahrt hat unter der Situation gelitten, mehr noch als Sie. Daher raten wir Ihnen: nehmen Sie 2020 unbedingt ein Flugzeug zu der Destination Ihrer Wahl und nicht das Auto oder die Bahn. Am besten steigen Sie direkt zu Hause in Ihren Flieger und landen direkt vor dem Hotel. Oder wollen Sie sich etwa die (Durch-)Reisebedingungen, Mundschutz-oder-nicht-Maßnahmen, Abstandsregelungen, Nahverkehrs-Auflagen und Fahrplanänderungen jeden einzelnen Landes und jeder einzelnen Provinz geben, das/die sie auf Ihrer Reise durchqueren?

Nach Ihrer Rückkehr kann das Bundesgesundheitsministerium in Absprache mit der WHO Ihr Reisegebiet auch rückwirkend zu einem Risikogebiet erklären und Sie müssen ggf. in Quarantäne. Dies ist aber nur ein kleiner Einschnitt, denn – hey, Sie haben frei und selbstbestimmt Urlaub gemacht! Das ist es, was zählt. Lassen Sie sich nichts einreden.

Coronatagebuch Tag #93

Der Wecker klingelt. Es ist ein Samstag. Es ist 8:30. Es gibt den ganzen Tag absolut nichts zu tun. Warum klingelt der Wecker? Er klingelt aus dem einzigen Grund, dass übermorgen wieder Schule ist. Zur Gewöhnung sozusagen. Seit über drei Monaten sind wir nicht mehr vor 8 aufgestanden. Ich habe mich noch nicht entschieden, ob ich den Schulstart ganz furchtbar schrecklich finden werde oder nur so mittelschlimm.

Das Homeschooling klappte bislang gut. Es besteht eigentlich kein Bedarf, aus vier Stunden Homeschooling drei Stunden Präsenzunterricht pro Tag zu machen. Aber gut.

Die Kleinen haben noch keine (gemeinsame) Zusage für den Kindergarten erhalten, wegen allem möglichen. Diese Unsicherheit hat jetzt nichts Gravierendes, aber sie nimmt mir die Lust darauf, die kommende Woche so zu planen, dass etwas Sinnvolles dabei herauskommt.

Ich habe keine Lust, als Kleinkindmutter zu Hause zu bleiben und den Frühstückstisch abzuräumen (bäh) und während Spielst-du-mit-mir zu überlegen, was einzukaufen wäre (bääääähh) und schon ganz früh wieder Mittag zu kochen (bääääääääääääääääähhhhhhh), weil wir ja alle so früh aufgestanden sind und um 12 schon wieder Hunger haben (unsere Essenszeiten liegen aktuell bei 10 – 15 – 20 Uhr, es wäre bei der Hitze und den Mittsommertagen einfach irre alles nach vorne zu verschieben – ja, ich komme mir vor wie ein Dauerurlauber oder Sozialhilfeempfänger, der glaubt, ein Anrecht auf seinen Lebensstil zu haben, weil alles andere furchtbar anstrengend wäre).

Blöd ist auch, dass die Tochter jetzt meist zur 1. Stunde hat, denn im vormaligen Stundenplan war Schulbeginn zur 2. Stunde. Also noch früher aufstehen als vor Corona. Zwischendurch gibt es aber Spät-Tage, da würde 9 Uhr als Aufstehtermin noch reichen. Und alle zwei Wochen ist wieder Homeschooling. Super für den Rhythmus und überhaupt.

Bleibt für mich: Berufliches auf nachmittags und nachts zu legen. Wenn man seit 6 Uhr morgens wach ist, ist das auch genau die Zeit, zu der man gerne arbeitet. Nicht.

Jetzt werde ich noch unsere Stoffmasken in die Waschmaschine tun. Das erste Mal. Bin ein bisschen aufgeregt.

Danach werde ich mich hinlegen. Nach genau 15 Stunden Nichtstun aka einkaufen, kochen, essen und den Tisch abräumen. Das Leben, das ich nie führen wollte. Aber für mehr hat heute die Kraft nicht gereicht.

Coronatagebuch Tag #91

Holunderblüten, Kirschen und Erdbeeren sind verschwunden. Eingekocht oder aufgegessen. Die meisten Salate auch. Tomaten- und Kartoffelblüten wagen sich hervor. Der Juni ist feucht. Unser Garten macht Pause. Hat Pause. Von der Trockenzeit, die eine Ewigkeit dauerte.

Wie kann etwas, das eine Ewigkeit dauerte, vorbei sein?

Ist dieses „nur notwendige Besuche“ wirklich schon wieder vorbei? Den Gartenpartys nach zu urteilen, ja.

Parallel fängt im Kindergarten der Abstandstanz gerade erst an.

Die meisten nichtsystemrelevanten Kinder haben die letzten drei Monate in einer Traumwelt verbracht. Anstatt sie frühmorgens zu wecken, in Jacke und Matschhose zu stecken und im Auto zu einer geschlossenen Einrichtung zu bringen, die sie bis zum Abholen nicht mehr verlassen dürfen, sind sie mit Ausschlafen, Gartenpartys, Filmnachmittagen, Höhlenbauen und Waldspaziergängen verwöhnt worden. Haben nach anfänglicher Pause die besten Freunde wiedergetroffen und sind noch besser befreundet als eh und je. Wissen nichts über respirationswiderständige Stofflagen vor dem Mund, weil sie ja zu jung sind, um diese tragen zu müssen.

Im Kindergarten darf J. mit seinen Coronazeit-Freunden S. und L. spielen, die mit ihm zusammen in der Gruppe sind. Vielleicht will er das aber auch nicht, weil er etwas älter ist als sie und sich schon wieder sehr auf die anderen Schulanfänger in seiner Gruppe freut.

M. darf aber nicht mehr mit ihren Coronazeit-Freunden S. und L. spielen, weil sie in der anderen Gruppe ist. Gruppen dürfen einander strikt nicht begegnen. Vielleicht will M., die noch nicht ganz eingewöhnt war, die penibel ihre Hände wäscht und die sagt „im Kindergarten habe ich Angst, dass ich andere anstecke“, wieder viel mit den Erziehern oder in der Kuschelecke kuscheln. Beides ist aber nicht erlaubt. Die Erzieher lehnen Nähe aufgrund der Regelungen ab. Sie haben alles, was zum Kuscheln einlädt, weggeräumt.

Vielleicht würde M., in ihrem vierjährigen Eifer alles richtig zu machen, nach anfänglichem Zögern Nähe aber auch gar nicht mehr dulden. Vielleicht wäre sie aus Selbstschutz sogar die Unbarmherzigste beim Aufdecken der Vergehen anderer Kinder (wie vertauschte Becher, zur falschen Tür reingekommen, zu dicht nebeneinander gespielt, gepopelt, Seife vergessen etc.)

Wird es diese Kontaktverbote jemals wieder geben und wenn ja, wüssten wir sofort wieder, was zu tun ist?

Würden wir beim nächsten Mal die Großeltern wieder ein halbes Jahr lang nicht in den Arm nehmen oder würden wir sagen, ach was solls.

Wahrscheinlich wüssten wir, wer sich unbedingt daran halten möchte und wem die Regeln egal sind. So wie man weiß, dieser zuckt bei Lärm immer zusammen, jener nicht. Dieser möchte immer lüften und legt das Besteck ordentlich in die Schublade, jener nicht. Jedem das seine.